Den Schmerz benutzen

Trauerarbeit und Empowerment: Claudia Rankines Langgedicht „Citizen“ beschreibt rassistische Mikroaggressionen und ist in den USA ein Bestseller. Auch in Deutschland könnte es zu einem Schlüsseltext werden

Wie gelangt man zum Atem eines freien Daseins? Claudia Rankine Foto: Elizabeth Weinberg/NYT/Redux/laif

Von Hannes Becker

Was hat Rassismus mit Literatur zu tun? Und was hat Rassismus mit mir zu tun? Diese Fragen werden gern am historischen Beispiel diskutiert (die USA, die 60er Jahre, James Baldwin). Dessen Aktua­lität wird dann betont. Weniger laut sind die Fragen da, wo es um die Gegenwart und einen selbst geht. Vielleicht deshalb erscheint jetzt Claudia Rankines „Citizen“ – in den USA längst ein Bestseller – auf Deutsch nicht in einem sogenannten Publikumsverlag, sondern in der Volte-Reihe des kleinen Verlags Spector Books in Leipzig.

„Citizen“ ist ein literarisches Ereignis – der Ausdruck stimmt hier mal –, vielleicht die wichtigste Auseinandersetzung mit Rassismus in der US-amerikanischen Gegenwartsliteratur. Im Zentrum des Buchs stehen kurze über den ganzen Text verteilte Schilderungen von Alltagsrassismus: Ein fremder Mann zeigt der Autorin das Bild seiner Frau („schön und schwarz, wie Sie“), die neue Therapeutin hält sie für eine Einbrecherin, ein Vorgesetzter an der Uni macht eine nachlässige Bemerkung zur Quote für People of Color.

Je näher die Person ist, von der solche microagressions ausgehen, desto schwerer ist es, das Erlebnis zu ertragen und eine Sprache dafür zu finden. Distanz und Anklage schlagen um in Selbstablehnung und Zweifel: Was hast du gesagt? Habe ich gerade richtig gehört? Das Gefühl, isoliert, verrückt zu sein („die anderen schwarzen Freunde haben das Problem doch auch nicht“) begleitet die trivialsten Vorgänge: Einparken, Bezahlen im Supermarkt, Smalltalk.

Die Angesprochene erlebt die rassistische Sprache am ganzen Körper, Claudia Rankine beschreibt es direkt: „Ein ungutes Wort hält den Körper in Hab-acht“, „kalt zieht sich der Magen Richtung Rippen“. Es verschlägt ihr den Atem und damit selbst die ­Sprache. Ein Stöhnen „wie Hirsche es tun“ oder unablässiges verstörendes Seufzen: In der Atemlosigkeit nach einer Konfrontation kann beides ein „Pfad zum Atem“ sein – „der Atem eines freien Daseins“ ist es nicht.

Claudia Rankine: „Citizen“. Aus dem Amerikanischen von Uda Strätling. Spector Books, Leipzig 2018, 182 Seiten, 14 Euro

Geisterhafte Stimmen

„Citizen“ ist zu großen Teilen ein langes Gedicht. In vielen scharf montierten Fragmenten umkreist der Text die Sprachlosigkeit, in die Rassismus die Betroffenen drängt. Klassische Themen des Gedichts (Einsamkeit, Erinnerung, Zwiesprache von Ich und Du) kehren hier wieder als Identitätsverlust, als Unmöglichkeit, Ich zu sagen, als Trennung von sich selbst. Der Form nach sind diese Passagen Explosion, Entgrenzung, Abstraktion der in den Alltagsbeschreibungen aufgeworfenen Motive.

Als Gegenstück dazu gibt es kompakte essayistische Passagen über Sportlerpersönlichkeiten wie Zinédine Zidane oder Serena Williams. Aus der Perspektive der schwarzen Fernsehzuschauerin erlebt Claudia Rankine, wie Williams, der „besten Tennisspielerin der Welt“, vorgeworfen wird, „dass sie durch ihre Erscheinung wie durch ihre Auftreten den Tennissport entstelle“. Der Vorwurf zeigt sich in den jahrelangen Fehlentscheidungen der Linienrichter, vor allem aber in den geisterhaften Stimmen der Fernsehkommentatoren, die alles bewerten, was Williams tut („das war unreif“, „das hat keine Klasse“, „sie ist verliebt“).

Auf dem Spiel stehen Williams’ Körper, ihre beispiellose Performance und die Hoffnung, dass Rassismus durch Siege im Spitzensport „reingewaschen“ werden könnte. Es ist eine vergebliche Hoffnung, und die Frustration darüber bricht sich in Williams’ seltenen, medial aber überrepräsentierten „Wutausbrüchen“ Bahn.

Die Verletzung ist kollektiv und trennt doch die Betroffenen voneinander

Die Körpererfahrung und die kaputte Sprache, die Rankine in „Citizen“ offenlegt, haben zu tun mit einer von vielen geteilten, kollektiven Verletzung, die aber die Betroffenen voneinander trennt: „Unsere ganze fiebernde Geschichte verleiht keine / Einsicht, / kollektiv kein Bewusstsein, / lässt den Blick / in den Augen nicht ja sagen“.

Die Verletzung anerkennen, den Schmerz benutzen, um sich mit anderen zu verbinden – Trauerarbeit und Empowerment –, darum geht es in Ran­kines Text. Um diese Anliegen literarisch zu verwirklichen, wählt Rankine die Form der Collage. Konsequent eröffnet sie Spannungen zwischen Perspektiven, Textsorten und Bedeutungsebenen, die sie zwar nicht überwinden kann, aber doch in eine Art prekäre Balance bringt. Das gelingt vor allem durch die suggestiv im Buch platzierten Fotos von Kunstwerken, Kleidungsstücken und Film-Stills, die keine Abbildungen von Thesen sind, sondern eigenständige Dimension des Textes.

In den 70er Jahren waren es afroamerikanische Schriftstellerinnen wie Audre Lorde, die Vorbild für die afrodeutsche Community wurden. Etwas Ähnliches könnte heute mit „Citizen“ und Claudia Rankine geschehen – jedoch für den literarischen Mainstream. Eine Aufwertung schwarzer Positionen steht hier noch aus, und vor allem die unabdingbare Selbstbefragung weißer Autor*innen lässt auf sich warten. Dass sich das ändert, dafür könnte die verlegerische Initiative der Volte-Herausgeber wegweisend sein – und „Citizen“ von Claudia Rankine könnte, wie schon in den USA, ein Schlüsseltext für schwarze und weiße Autorinnen und Autoren werden.