Gespenster und Liebeskummer

Der amerikanische Schriftsteller Andrew Sean Greer bekommt den Pulitzer-Preis für Literatur

Zwei Irrglauben des akademischen Betriebs gehören endlich mal aufgelöst: 1. Politikwissenschaft hat mit Politik zu tun. 2. Literaturwissenschaftler haben Freude am Lesen. Ein Buch entweder zu lieben oder aus Langeweile aus der Hand zu legen, ist oft das Erste, was ein literaturwissenschaftlicher Studiengang einem austreibt. Das gegenseitige Übertreffen in den allerhöchsten Verschraubungen von Analyse und Theorie wird bisweilen so wild getrieben, dass sich keiner mehr daran erinnert, wie es mal war, eine Geschichte zu lesen. Oder sich gar traut, selbst einen Satz zu schreiben.

In den USA steuert man traditionell dagegen, indem „Creative Writing“ seinen festen Stellenwert an literaturwissenschaftlichen Instituten hat. Auch das Peter-Szondi-Institut der Freien Universität macht das glücklicherweise schon länger. Im Wintersemester 2012/13 belegten ich und einige andere durch das germanistische Bachelorstudium belletristisch arg Ausgehungerte dort unser allererstes Poetikseminar: „Reading as a writer“ hieß es, angeboten von einem amerikanischen Schriftsteller namens Andrew Sean Greer, von dem wir noch nie gehört hatten, weil seine Bücher Titel trugen wie „Die erstaunliche Geschichte des Max Tivoli“, während wir irgendwo zwischen Kafka und Derrida schwebten und heimlich Höhenangst hatten.

Andrew – zum Glück war das Seminar auf Englisch, sodass uns das Duzen ein kleines bisschen weniger schräg vorkam – druckte uns Szenen aus „Lolita“ aus, die wir zerschneiden und neu zusammenpuzzeln sollten. Er zwang uns, solange denselben Satz von Proust zu lesen, bis wir darüber lachen mussten. Als wir irgendwann unsere ersten Kurzgeschichten schrieben, über Mütterzorn, Gespenster und Liebeskummer, fühlten wir uns wie kleine Nabokovs, und nichts erschien plausibler, als dass der große amerikanische Romancier John Updike Andrews Erstling im New Yorker mit Nabokov verglichen hatte. Am Ende des Semesters gingen wir alle zusammen feiern, und er schenkte jedem ein Buch aus seinem Regal.

Im Sommer verschwanden wieder alle in ihren Kolloquien, aber: Wir lasen anders. Und Andrew schrieb einen neuen Roman, „Mister Weniger“, benannt nach seinem Protagonisten Arthur Weniger, der als Schriftsteller durch die Welt reist und auch ein Poetikseminar in Berlin gibt. Über seine Studenten sagt dieser Arthur ausgesprochen treffend: „Was für eine Erleichterung für ihr von Arbeit bestimmtes Leben! Lernen sie dabei etwas über Literatur? Vermutlich nicht. Aber sie entdecken ihre Liebe zur Sprache neu, etwas, das immer mehr nachgelassen hat, wie Sex in einer langen Ehe. Und deshalb lernen sie auch ihren Lehrer lieben.“

Für diesen Roman hat Andrew Sean Greer jetzt den Pulitzer-Preis in der Kategorie „Fiction“ erhalten, nach Hemingway, Harper Lee und Updike. Niemanden kann das mehr freuen als uns, denen er mal Lesen und Schreiben beibrachte. Johanna Roth