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Archiv-Artikel

„Deutschland hinkt hinterher“

Palliativmedizin ist die Medizin, die Sterbenden das Leben erleichtern will. Der Palliativmediziner Lukas Radbruch über die Autonomie am Lebensende und den Rückstand der deutschen Praxis

INTERVIEW U. WINKELMANN

taz: Herr Radbruch, liefert die Patientenverfügung eine Garantie, dass ein Patient sterben darf, wann er sterben will?

Lukas Radbruch: Nein. Ich finde es zwar richtig, dass es die Patientenverfügung gibt. Es wäre auch in Ordnung, sie gesetzlich zu stärken. Meinetwegen kann sie sogar zur Pflicht für jeden Patienten werden – zu groß ist oft die Unsicherheit bei Ärzten und Angehörigen darüber, was mit einem Patienten im Wachkoma geschehen soll. Doch auf unseren Palliativstationen liegen ja keine Wachkoma-, sondern größtenteils Krebspatienten. Diese Fälle sind oft so unvorhersehbar, dass eine mit noch so viel Mühe ausgestellte Patientenverfügung nicht weiterhilft.

Was soll ich denn tun, wenn ich sichergehen will, dass ich nicht gegen meinen Willen behandelt werde?

Ich glaube einfach nicht, dass sich alle Zweifelsfälle des Lebens und der Medizin absehen und abdecken lassen. Aber das Beste ist, zur Patientenverfügung ergänzend noch eine Vorsorgevollmacht auszustellen, wer im Fall der Entscheidungsunfähigkeit für einen entscheiden soll. Grundsätzlich jedoch muss jede Entscheidung medizinisch sinnvoll sein.

Dann entscheidet über das Lebensende, wer einen solchen medizinischen Sinn definiert – also der Arzt, nicht der Patient.

Kein Arzt sollte gezwungen werden, etwas medizinisch nicht Sinnvolles zu tun, finde ich. Natürlich ist Autonomie wichtig – in unserer Gesellschaft das absolut Wichtigste. Das ist zum Beispiel in Japan ganz anders. Da hat man den Kaiser selbst nicht über seinen Tumor und dessen Behandlung aufgeklärt – der Vater des jetzigen Kaisers starb als unwissender Patient. Auch in Spanien wird die Betäubung eines Patienten oft nicht mit ihm, sondern mit seinen Verwandten abgesprochen. Im internationalen Vergleich also relativiert der deutsche Begriff der Patientenautonomie sich etwas.

Immer wenn die Politiker im Streit um die Patientenverfügung nicht weiterwissen, fordern sie, dass auf jeden Fall aber mehr Palliativmedizin hermuss. Befriedigt Sie das?

Natürlich freue ich mich darüber. Bis vor sehr kurzer Zeit war die Palliativmedizin ein Stiefkind der Medizin. Jetzt ist es immerhin ein Stiefkind im Aufwind. Bald wird der fünfte Lehrstuhl in Deutschland besetzt werden. Trotzdem hinken wir in Deutschland dem Vorreiter England zwanzig Jahre in der Entwicklung hinterher. Wir brauchen 50 Palliativbetten auf eine Million Einwohner, haben aber weniger als 20. Palliativmedizin ist kein Pflichtfach – Studiengänge gibt es nur dort, wo die Lehrstühle sind. Die meisten Studenten lernen immer noch, dass Morphium gefährlich ist. Dabei ist Morphin das wichtigste Medikament der Palliativmedizin.

Wird in Deutschland zu wenig Morphium verbraucht, weil die Ärzte seit der Nachkriegszeit fürchten, Menschen abhängig zu machen?

Nach dem Krieg bekamen viele Invaliden falsche Dosen. Doch mittlerweile haben sich das Morphin und seine Verabreichungsformen verändert. Das ist selbst bei schlecht aus- und weitergebildeten Ärzten angekommen. Die modernen Pflaster zum Beispiel gehen weg wie geschnitten Brot – vermutlich, weil die Ärzte nicht die „böse“ Droge damit verbinden, sondern das „Trostpflaster“. Die internationalen Vergleiche der Verbrauchsmengen sind allerdings trügerisch und sagen nicht unbedingt etwas über eine gute Palliativmedizin aus. In Dänemark etwa werden auch viele chronisch Schmerzkranke mit Morphin behandelt.

Die Arbeit mit Morphin ermöglicht auch die so genannte indirekte Sterbehilfe: die Sedierung bis zum Tode. Gibt es hier noch einen realen Unterschied zur aktiven Sterbehilfe?

Ab einem gewissen Punkt liegt der Unterschied zwischen indirekter und aktiver Sterbehilfe nur noch im Auge des Betrachters, das ist wahr. Doch wenn man Patienten bis an ihr Lebensende bis zu tiefer Bewusstlosigkeit sediert, darf man sich das nicht leicht machen. Wir haben dies in den vergangenen eineinhalb Jahren in 300 Fällen nur 3-mal für notwendig gehalten. Aus den Niederlanden wird berichtet, dass hier diese Form der Sterbehilfe in zigtausend Fällen praktiziert wird, wenn die gesetzliche Indikation für die dort ja legalisierte aktive Sterbehilfe nicht reicht. Dort läuft offenbar eine Menge schief.

Kann Palliativmedizin den Menschen die Angst vor einer kalten Apparatemedizin am Lebensende nehmen?

Von den Patienten, die bei uns ihre Schlaf- und Schmerztabletten gesammelt haben, um sich notfalls selbst töten zu können, hat niemand von der Möglichkeit Gebrauch gemacht.