Kein bisschen Herz

Der Kampf ums Gewicht wird zur Tortur. Unter den Sportlern herrscht die blanke Angst vor den Sanktionen der Trainer. Die stellen die Kinder vor ihren Kameraden bloß, schubsen und kneifen sie. Bei Elternabenden herrscht eisiges Schweigen. Ein verzweifelter Vater wendet sich via Facebook an die Öffentlichkeit

Extremer Sport: die Russinnen Elisaweta Safonowa und Ewelina Bawykina bei der Sportakrobatik-EM 2015 Foto: imago

Dies ist ein Brief einer Familie mit einem Kind, das Leistungssport betreibt. Wir berichten hier von Erlebtem, reden von Tatsachen. Unser Kind ist Sportakrobat, und wir stehen als Eltern voll und ganz hinter ihm und dem Sport. Wir opfern Zeit, Geld und Engagement, aber es hat sich im Laufe der Zeit einiges verändert. Der Sport steht so sehr im Fokus und im Vordergrund, dass das Wohl des Kindes leidet. Hier ein paar erlebte Beispiele: Das Kind ist 10 Jahre alt, 1,34 Meter groß, und das Gewicht schwankt zwischen 28,5 und 29 Kilogramm. Anschuldigungen der Trainer, „du bist zu fett“ oder „du bist zu dick, du kannst zu Hause bleiben“, sind normaler Sprachstandard geworden. Selbstverständlich ist uns bewusst, dass ein Obermann in der Sportakrobatik leicht und klein sein muss, damit die Balance- und Hebeelemente gut funktionieren, allerdings macht der Ton die Musik – und außerdem liegt das Gewicht absolut in der Norm.

So motiviert man keine Kinder, im Gegenteil. Auf einer Fahrt ins Trainingslager fielen Worte wie: „Ich mache jetzt ein Video von euch, stelle es auf die Vereinsseite und schreibe drunter: Schlechteste Sportler.“ Bei Krankheit und Krankmeldung wird behauptet: „Die faulenzt nur zu Hause herum.“ Es liegen WhatsApp-Nachrichten von anderen Sportlern vor, die um Essen bitten, heimlich, versteht sich. Es gab folgenden Vorfall: Ein Sportler bat um Essen während einer Veranstaltung, aber weil sich alle beobachtet fühlten und Angst hatten, wurde ein belegtes Brot und ein Apfel auf der Toilette hinterlegt. Nach Absprache ging der Sportler einige Minuten später auf die Toilette, um dort zu essen. Das Gewichtsthema ist ein ganz heikles Thema. Wenn bei einer Meisterschaft ein Sportler zu einer Person kommt, sich dieser anvertraut und sagt: „Vielleicht geh ich brechen, ich hab Angst vor der Waage“, dann kann ich nicht mehr meinen Mund halten.

Sportler sind teilweise derart eingeschüchtert, dass ein Kind den ganzen Tag bis Trainingsende nichts mehr trinkt, denn jeder weiß: 0,5 Liter Wasser entsprechen 0,5 Kilo auf der Waage. Tägliche Kopfschmerzen sind die Folge. Egal, ob man eine Meisterschaft als Sieger verlassen hat, einen Tag später bekommt das eigene 10-jährige Kind an den Kopf geworfen: „Du bist eine Schande für den Verein.“ Oder kurz vor dem Wettkampf: „Mit euch turne ich nicht ein, ihr seid eh zu schlecht.“ Unser Kind hatte dann auch öfter Fieberattacken. Der Vereins-Sportarzt wurde aufgesucht. Fieber kann man mal haben, ganz normal bei Kindern, allerdings fiel dem Sportarzt auf, dass es zu lange anhält und vormittags kein Fieber da war. Der Sportarzt schlug vor, regelmäßig die Temperatur zu messen. Das Ergebnis: Morgens und am Vormittag verschwand das Fieber gänzlich, gegen 15 Uhr stieg es. Der Arzt schlussfolgerte, die Angst vor dem Training löst das Fieber aus. Erschreckend, wenn man das als Diagnose hört. Vom Vereinsarzt wurde wortwörtlich empfohlen: „Das Kind wird eine Woche vom Sport befreit, um es aus der Schusslinie zu nehmen.“

Auf längeren Reisen oder Trainingslagern gab es folgende Situation. Traineranweisung: Der Obermann hat die Hälfte seines Essens seinem Untermann zu geben. Taschen werden kontrolliert. So haben wir uns das nicht vorgestellt. Ich gebe ja beim Leistungssport mein Kind in die Obhut der Trainer. Die Trainer verbringen eine Menge Zeit mit den Kindern. Dass dann Disziplin und Ordnung herrschen, ist vollkommen klar. Es ist auch klar, dass ein Unterschied besteht zwischen Leistungssport und Breitensport, aber die Zeit, die Trainer mit Sportlern verbringen, ist auch Erziehungszeit – und damit enorm prägend. Beleidigungen, respektloses Verhalten oder Mobbing dürfen nicht dazugehören. Der Trainer ist maßgeblich an der Persönlichkeitsentwicklung beteiligt. Wertschätzung und Motivation sollten an erster Stelle stehen, auch wenn mal etwas nicht klappt. Öffentliches Bloßstellen vor anderen Sportlern scheint mir eine ganz armselige Vorgehensweise zu sein.

Ein Trainer ist Vorbild, Motivator und Betreuer. Und auch wenn es sich hier um Leistungssport handelt, ein Trainer muss trotzdem ein Herz für Kinder haben. In vielen Vereinen funktioniert das Training mit sportlichen Erfolgen, und dort halten sich Disziplin und Strenge die Waage mit Motivation und Herzlichkeit. Ist das nicht der Fall, resignieren Kinder. Ein anderes Beispiel: Einmal verletzte sich ein Kind im Training. Der Vorfall wurde abgetan: „Markiert eh nur, weil die Sprungreihe dran ist.“ Das Kind musste zwei Stunden allein abgeschirmt dasitzen und auf die reguläre Abholung warten. Die Eltern wurden nicht unterrichtet. Am Ende wurde beim Röntgen eine Verletzung festgestellt. Das Kindeswohl wurde hier außer Acht gelassen. Jetziger Stand der Dinge: Kinder werden im Training heimlich gefilmt, um den Eltern zu beweisen, wie gut oder schlecht sie trainieren. Bestimmten Sportlern wird das Miteinandersprechen gänzlich verboten. Allen Sportlern wird zu Beginn des Trainings „Guten Tag“ gesagt, in letzter Zeit sind jedoch einige Kinder davon ausgeschlossen. Namensschilder werden ohne jeglichen Grund entfernt. Trainingszeiten werden von fünfmal pro Woche auf dreimal pro Woche reduziert. Ohne Erklärung. Die Förderung ist also unterschiedlich und willkürlich – und orientiert sich nicht immer am Leistungsstand. Es geht zu oft nach Sympathie und danach, welches Kind den Mund hält und welche Eltern sich aus allem raushalten, die Trainer machen lassen.

Es wurde mehrfach untersagt, an die Öffentlichkeit zu gehen. Aber es geht hier um das Kindeswohl! Es gibt bestimmt ganz viele tolle Vereine in Deutschland, ganz viele liebevolle ehrenamtliche Trainer. Was wir erleben, ist hoffentlich die Ausnahme. Allein, ich glaube nicht daran. Kinder können sich nicht wirklich wehren, wir als Eltern schon. Wir sind verpflichtet, auf sie zu achten. Wir wollen, dass es unseren Kindern gut geht, dass sie auch im Leistungssport fair behandelt werden, vor allem respektvoll, und dass ihre Leistungen anerkannt werden. Wir lassen nicht zu, dass die Psyche der Kinder kaputtgemacht wird. Und genauso wie wir Eltern diese Verpflichtung haben, so haben sie auch der Vereinsvorstand und der Verband. Sie müssen im Notfall einschreiten. Es handelt sich um Kinder. Aufgrund ihres Alters müssen sie besonders geschützt werden. Davon, dass die Trainer Kinder schubsen und manchmal auch kneifen, habe ich noch gar nicht berichtet. Etliche Gespräche haben wir mit Trainern und dem Vorstand geführt, natürlich verlief alles im Sand. Anschuldigungen werden abgeschmettert, bei Elternabenden traut sich keiner, den Mund aufzumachen.

Viele Eltern wissen um diese Probleme, haben aber Angst, etwas zu sagen. Das ist nachvollziehbar. Erstens, weil sie wissen, dass alles an den Kindern ausgelassen wird. Zweitens wollen sie ja, dass ihr Kind sportlich weiterkommt. Man sitzt in einer Zwickmühle. Wir sind jetzt natürlich im Verein zu Außenseitern geworden, weil wir nicht mehr den Mund halten und weil wir andere aufrütteln. Auch wenn wir hiermit wohl nicht mehr viel erreichen können, haben wir uns immerhin das Leid von der Seele geredet. Es wird einige Eltern und Sportler geben, die diesem Brief, wenn sie denn könnten, zustimmen würden. Ich verstehe, dass viele nichts sagen werden, weil sie sportlich weiterkommen wollen, aber ich denke, allein das Lesen dieses Briefes wird ihnen eine kleine Erleichterung verschaffen, weil sie erfahren, dass sie mit ihren Problemen nicht alleine dastehen.

Leistungssport kann hart sein, sehr hart. Auch für Kinder, die in bestimmten Sportarten wie Turnen, rhythmischer Sportgymnastik, Turmspringen oder Sportakrobatik sehr früh, manchmal mit fünf oder sechs Jahren, schon intensiv trainieren müssen. Hier dokumentieren wir den Offenen Brief eines besorgten Vaters, der dieser Tage seine Klage über unhaltbare Zustände im Sportverein seines Kindes auf Facebook veröffentlicht hat. Der Text ist leicht gekürzt und im Sinne einer besseren Lesbarkeit moderat überarbeitet.

Was in Wirtschaft und Gesellschaft gilt, das muss doch auch im Sport gelten: Integrität, Verantwortung, Nachhaltigkeit oder Wahrung des Gemeinwohls. Nicht alle Entscheidungen im Leben sind richtig, aber das macht das Leben aus. Wichtig ist: Wir haben immer eine Wahl. Wir dürfen den Mund aufmachen und Unrecht aufdecken, das kann uns niemand verbieten. Ein unglückliches Kind jeden Tag zum Training zu fahren, ist fahrlässig, grob fahrlässig und für uns keine Option mehr. Unser Kind ist amtierender Deutscher Meister. Hier geht es also nicht darum, nachzukarten oder Rache zu üben. Am Talent liegt es gewiss nicht. Womöglich werden wir jetzt öffentlich vom Verband schlechtgemacht, solange wir das aber von unserem Kind fernhalten können und uns schützend wie eine Mauer vor unser Kind stellen können, ist das in Ordnung für uns.

Wir können mit fast allem leben, nur nicht mit einem unglücklichen Kind. Ich möchte nicht, dass mein Kind in drei Jahren an Depressionen leidet oder den Sport hasst, weil er mit so viel Schlechtem verbunden ist. Wir geben eine der schönsten Sportarten auf, die Sportakrobatik. Aber lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Und allen Sportlern, egal welche Sportart sie ausführen, möchten wir sagen: Seid stark, fleißig und erfolgreich! Hartes Training gehört dazu, auch Disziplin und auch mal weniger gute Tage. Auch strenge Trainer. Im Mittelpunkt steht aber der Sportler. Sonst niemand.