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Ekel aus der Konserve

Am Thalia-Theater machen Rammsteins Till Lindemann und das Regieduo Ene-Liis Semper und Tiit Ojasoo aus „Hänsel und Gretel“ eine Fressorgie. Grotesk ist das – und weiter nichts

Von Jan-Paul Koopmann

Da frisst einer Spaghetti bis zum Würgen und spült dann mit Milch nach, bis es wieder aus ihm herauskübelt. Klar ist es widerlich, sich das in Großaufnahme auf einer meterhohen Videoleinwand anzugucken. Ekeln soll es auch, provozieren – und obendrein scharfe Konsumkritik leisten. Kunst ist es eh, weil es im Theater passiert und weil das Rammsteins Till Lindemann ist, der sich da übergibt. Tja.

Viel mehr als das hat „Hänsel und Gretel“ in der Inszenierung von Ene-Liis Semper und Tiit Ojasoo dann leider auch nicht zu bieten. Ach so, um Kannibalismus geht es hier im Thalia-Theater auch noch, aber es braucht nun wirklich kein Genie, den aus dem Grimm’schen Stoff herauszuarbeiten. Gruselig ist an der Geschichte ja ohnehin eher, wie die Menschenfresserei da so nebenher mitläuft. Dass da wer ein Kind verspeisen will. Monster tun sowas und Raubtiere, und das ist die Hexe eben.

Hier erscheint sie als Dragqueen, die Björn Meyer mit sichtlicher Freude rumsäuseln lässt. Es sind vor allem diese Figuren, die sich da im Bühnenbungalow zu einer opulenten Groteske verdichten: aus Travestie, Fettleibigkeit, aufgeklebten Pusteln und modellierten Hasenscharten im Gesicht. Und wie jedes stimmige Bild macht auch dieses hier misstrauisch. Wie einfach doch alles wäre, wenn die Hässlichkeit der Gesellschaft sich eins zu eins in den Körpern ihrer Insassen niederschlagen würde. Ach, wie schön doch die Normalen sind. Und das ist eben auch, was hier unterm Strich bleibt: die Selbstvergewisserung, alles Mögliche, aber immerhin kein Freak zu sein. Der Konsumterror, um den es hier plakativ geht, ist ein Problem der anderen.

Zu sehen sind diese Bilder größtenteils im Video: Kameraleute umtänzeln die Spieler*innen und bringen deren deformierten Züge auf der Leinwand groß raus. Und eine Weile kann man sich auch wirklich berauschen an der komplexen Choreografie, die unten auf der Bühne funktioniert und oben auf der Leinwand Szenen schafft, die tatsächlich nach am Horrorfilm geschulter Schnitttechnik ausschauen: Die Kamera kreist einmal um die Familie und in Runde zwei steht – plötzlich – ein finster dreinblickender Lindemann im Raum.

Das funktioniert so lange, bis klar wird: So live ist das alles gar nicht. Ein Teil der Bilder ist vorproduziert und wird hier in die Liveaufnahmen montiert. Technisch mag auch das beeindruckend sein, doch die Illusion ist trotzdem dahin. Und der Lindemann, der ist auch gar nicht da – sondern singt aus der Konserve.

In den Szenen taucht er nur selten auf, dafür laufen Musikvideo seiner neuen Songs, die bald praktisch im neuen Soloalbum zweitverwertet werden sollen. Im Stück sind es kommentierende Episoden, die immerhin besser in der Gesamtkomposition aufgehen als das eher obskure Grimm-Märchen „Von dem Mäuschen, von dem Vögelchen und der Bratwurst“, das hier so am Rande der Handlung aufflackert. Nicht als zweite Ebene, sondern um noch mehr verrückte Bilder abzuwerfen.

Man hätte Spannung aufbauen können – zwischen konsumfertigem Kurzfilm und dem Geschenken auf der Bühne. Hätte man, hat man aber nicht, sondern ärgerlicherweise gleich beide Formate verraten. Denn wenn Hänsel in der Außenaufnahme im Fatsuit ums Feuer springt, dann ist das ein billiges Video im Theaterrequisit. Und andersherum geht auf der Bühne die Qual verloren, wenn die echte Fressorgie vor allem in gefakten Live-Bildern passiert, während man sich unten nur verhalten ein bisschen Sahnetorte vom Finger schleckt.

Überhaupt, diese ewig lange Fresserei: Da erodiert das schöne Bild vom Anfang, wo es noch um die Eltern geht. Und um die tatsächlich drängende Frage, was eigentlich aus einem wird, wenn man Kinder hat und eigentlich frei sein will.

Wirklich toll umgesetzt hat Gabriela Maria Schmeide die böse Hausfrau und Mutter von Hänsel und Gretel. Die Kinder im Wald verrecken zu lassen, geht hier viel tiefer als die blöde Geschichte vom Sparzwang, ganz lustig abgetan in der Überlegung, ob man anstelle der Kinder nicht auch den Zweitwagen oder das Netflix-Abo abschaffen könnte.

Völlig unklar bleibt, warum sich die Inszenierung danach dann doch auf diesen Fetisch vom Konsum versteift. Und ihn – „Das große Fressen“ lässt grüßen – am Futtertrog verhandelt. Lindemanns Spaghettikotze, Sahnetorte und Berge von Burgern. Big-Macs übrigens, die McDonald’s gerade selbst fetischisiert und mit Sonderpreis Geburtstag feiern lässt: Noch so ein schönes Bild neben vielen anderen, die alles überstrahlen, was das Stück möglicherweise inhaltlich noch zu sagen gehabt hätte.

Es bleibt ein halbherziges Rammsteinkonzert aus der Dose, das sich genauso reibungslos wegkonsumieren lässt wie die beiden Burger auf dem Hin- und Rückweg.

So, 22. 4., 20 Uhr, Thalia Theater, weitere Termine: 8./16./30. 5.

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