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Archiv-Artikel

BETTINA GAUS POLITIK VON OBEN Mutti, was hast du mir angetan?

Warum Kanzlerin Angela Merkel mit einem Spitznamen bedacht wird, der mit ihrem Charakter nun wirklich nichts zu tun hat, wohl aber mit der Befindlichkeit der anderen

Spitznamen sagen mindestens so viel über die Leute aus, die sie verleihen, wie über die, denen sie gelten. Angela Merkel wird in der Bundestagsfraktion der Union gerne „Mutti“ genannt. Weil sie berühmt ist für ihr weiches Herz, sich um das Wohlergehen der Abgeordneten und vor allem auch der Ministerpräsidenten sorgt und am liebsten alle bekochen würde? Gewiss doch. So kennt man die Kanzlerin.

Nein, der keineswegs liebevoll gemeinte Spitzname bezieht sich nicht auf den Charakter. „Mutti“ speist sich aus anderen Quellen. Angela Merkel ist eine 55-jährige Frau, der erkennbar wenig daran liegt, jünger zu wirken, als sie ist. Offenbar bedeutet die Tatsache, dass so jemand Chefin sein darf, für viele Männer noch immer eine narzisstische Kränkung. Die Herablassung lindert den Schmerz.

Und weist, nebenbei, auf die ostdeutsche Herkunft der Kanzlerin hin. In den noch immer neuen Bundesländern wird man ja selbst von gänzlich Unbekannten gelegentlich als „Mutti“ bezeichnet, sobald man im richtigen Alter ist. Westdeutsche empfinden das als seltsam distanzlos. Aber auch Distanzlosigkeit ist nichts, was man Angela Merkel vorwerfen kann. Wer sie „Mutti“ nennt, drückt aus, wie ein Bundeskanzler aus seiner Sicht sein sollte. Männlich, dynamisch und westdeutsch.

Das allerdings bedeutet keineswegs, dass Männer von sozialer Verachtung verschont blieben. Wenn Horst Köhler die Ausstrahlung eines „Sparkassendirektors“ attestiert wird, dann ahnt man, wie sich der Beschreibende sein Staatsoberhaupt wünscht: als Repräsentant einer Großbank, mindestens. Die Angst vor dem Kleinbürgertum sitzt tief.

Rettung naht. Wenigstens setzt sich endlich wieder ein Freiherr an die Spitze der Kavallerie. Die Begeisterung für Minister Karl-Theodor von und zu Guttenberg schlägt hohe Wellen. Nachgerühmt wird ihm unter anderem, wie wunderbar unabhängig er sei. Weil – sagen Leute, die sonst durchaus bei Verstand sind – sein Familienvermögen groß genug sei, um ihn unempfänglich zu machen gegenüber allen Verlockungen von Lobbyisten. Sollte man das nicht konsequent weiterdenken? Und künftig den Nachweis eines Mindestvermögens für Bundestagskandidaten verlangen? Zumal ja die Unterschicht das Geld, das man ihr in die Hand drückt, ohnehin nur versäuft, wie uns jetzt ein Sozialdemokrat erklärte.

Die Autorin ist politische Korrespondentin der taz Foto: Amélie Losier