Tanz als Kampfbegriff

Ab heute gastiert die berühmte Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker in der Volksbühne. Was wird aus dem Ansatz,
den Tanz mit ins Konzept des Theaters aufzunehmen?

Szene aus „Vortex Temporum“ Foto: Anne van Aerschot

Von Astrid Kaminski

Tanz: scheinbar ein Synonym für den Niedergang der Volksbühne unter Chris Dercon. So lässt sich eine weit verbreitete Hypothese zusammenfassen. Erstaunlich daran: Während sich die Institutionen der bildenden Künste in den letzten Jahren auf der Suche nach immateriellen Werk- und Kunstbegriffen längst intensiv dem Tanz zuwenden, verbarrikadieren sich gerade die Institutionen der darstellenden Künste aus Angst vor Unlesbarkeit hinter dem Sprechakt.

Tatsächlich hat der Tanz wie alle Künste ein komplexes eigenes Referenzsystem produziert, für das neben Unvoreingenommenheit ein gewisser Vorbildungsstand sicher nicht die schlechteste Voraussetzung ist. Da ein solches Wissen jedoch nur selten zum Bildungskanon an Schulen gehört, liegt die Anforderung an eine Zuschauer*innenschaft etwas höher. Tanz pauschal als unterkomplexere Kunstform abzulehnen erinnert in etwa an jene Stufe interkultureller Bildung, auf der Unverständliches als „Das klingt chinesisch“ abgetan wird.

In dieser Beziehung hatte es Dercon mit einer am Deutungsprimat klebenden Theateröffentlichkeit (deren favorisierter Theaterbegriff der öffentliche Schauprozess zu sein scheint) nicht leicht. Dass er zusammen mit seiner Programmdirektorin Marietta Piekenbrock auch die Tanzpresse wie -szene nicht ganz mit ins Boot bekam, hat komplexere Gründe.

Zunächst hat die Szene nicht mehr unbedingt Lust, sich in Anerkennungskämpfe zu werfen – schon gar nicht in einer Stimmung, in der sowieso nur Reibungsverluste zu erwarten sind. Darüber hinaus war der Versuch, zunächst etablierte Choreograf*innen zu programmieren, um sich so den Zuspruch eines an früheren Berliner Formaten (wie den Festivals In Transit am HKW oder Foreign Affairs am Haus der Berliner Festspiele) orientierten Publikums zu sichern, recht kurz gegriffen.

Ein Theater ist eben kein Festspielhaus. Nur dadurch, dass es Koproduktionen zwei- oder dreimal in einer Spielzeit programmiert, schafft es – mal abgesehen von problematischen ökonomischen Bedingungen – noch keinen Identifikationswert, sondern eher einen Erlebnisverlust: Der Einmaligkeitscharakter einer Festivalproduktion verfliegt.

Ein weiterer Punkt ist die Auswahl an Choreograf*innen. Zunächst einmal nachvollziehbar: Boris Charmatz und Mette Ingvartsen, mit denen sich die Volksbühne „auf fünf Jahre verabredet hat“ (Piekenbrock), gehören zu einer jungen, international erfolgreichen Generation, die sowohl von einem aufgeschlossenen Publikum als auch von einer auf aktuelle Diskurse eingeschworenen Szene wahrgenommen werden. Boris Charmatz’ Tempelhof-Produktion „10.000 Gesten“ etwa lief jüngst auf der Tanzplattform in Essen, dem Showcase für in Deutschland (ko)produzierterte Werke. Tino Sehgal, der die Volksbühne installativ eröffnete, und Trajal Harrell, der bislang für die nächste Spielzeit programmiert war, sind ähnlich angesagte Choreografen der jüngeren Generation mit einzigartigen Handschriften.

Ähnlich kompatibel sind Jérôme Bel und Anne Teresa De Keersmaeker, die beide eine Generation älter sind. De Keers­mae­ker gilt als Weiterentwicklerin des Postmodern wie des Minimal Dance. Ebenso bekannt ist sie für ihre unvergleichliche Musikalität, mittels derer sie auch komplexe Neue-Musik-Partituren in so energetische wie strenge Raumarchitekturen umsetzt.

Die Szene hat nicht unbedingt Lust, sich in Kämpfe um Anerkennung zu werfen

Ein Exempel davon statuiert sie anhand von Gérard Griseys Spätwerk „Vortex Temporum“ (1996), in dem sich eine Art posthumanistischer Horizont der von ihm begründeten Spektralmusik auftut. An der Volksbühne wird die Choreografie dazu nun erstmals zusammen mit der Ausstellung „Work/Travail/Arbeid“ gezeigt, in der Besucher*innen den Aufbau der musikalisch-tänzerischen Wechselbeziehungen multiperspektivisch nachvollziehen können. Ein sinnliches Weiterbildungsangebot also, das einzigartig ist.

Was bei all diesen durchaus teuren Unternehmungen fehlt, ist einerseits die Überraschung, andererseits die Bindung an die Vor-Ort-Szene. Berlin ist derzeit ein Mekka zeitgenössischen Tanzes. Der ist jedoch, auch aufgrund fehlender Präsentationsorte, heterogen und dezentral organisiert. Die Potenziale der Szene zu filtern und eine Einbindung zu suchen wäre so spannend wie anspruchsvoll.

Die Vorbereitungszeit der Intendanz von Dercon/Piekenbrock hätte in dieser Hinsicht durchaus anders genutzt werden können. Aber was nicht war, kann noch werden: Piekenbrocks Vertrag läuft noch, und wenn es Interimsintendant Klaus Dörr mit seinen Kollektivgedanken ernst meint, dann wäre die an Selbstorganisation geschulte Tanzszene mehr als ein guter Ansprechpartner: ein Trumpf.

„Vortex Temporum“, 20.–22. 4, „Work Travail Arbeit“ 26.–29. 4. in der Volksbühne