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Archiv-Artikel

„Ich finde das unverständlich“

UNTERSUCHUNGSBERICHT (I) Kinderschutzexperte Reinhart Wolff hat den Fall des Bad Segeberger Jungen untersucht, den seine Eltern in einem verdreckten Keller hielten

Reinhart Wolff

■ 73, ist emeritierter Erziehungswissenschaftler und Soziologe. Er lehrte Sozialarbeit und Sozialpädagogik, Erziehungswissenschaft, Soziologie mit Schwerpunkt Jugendhilfe, Kinderschutz, Hilfesystemforschung, Qualitätsentwicklung, Handlungsmethoden und Selbstreflexion in der Sozialen Arbeit an der Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin.

INTERVIEW FRANK BERNO TIMM

taz: Herr Wolff, spektakuläre Fälle von vernachlässigten Kindern sind in den Medien immer wieder ein Thema. Ist das Bad Segeberger Kellerkind ein typischer Fall?

Reinhart Wolff: Ja, das ist ein typischer Fall.

Sie haben das Oberlandesgericht in Schleswig kritisiert, weil es bekannt gemacht hat, dass das Sorgerecht für das Kind größtenteils beim Jugendamt lag. Warum bemängeln Sie das?

Das Oberlandesgericht hat sich damit zum Bestandteil der – wie ich es nenne – Übertragungsdynamik gemacht. Ich finde das völlig unverständlich.

Was meinen Sie mit „Übertragungsdynamik“?

Die Familie des Jungen hat in einem mehrjährigen Hilfeprozess, in den viele Fachleute eingebunden waren, immer wieder zwischen Öffnen und Abblocken der Hilfsangebote hin und her gewechselt. Das hat sich regelrecht auf das System der Helfenden übertragen.

Schließen Sie denn in Ihre Kritik auch die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen die Eltern und das Jugendamt ein?

Ich glaube, dass diese Ermittlungen ohne Ergebnis ausgehen, weil sich möglicherweise keine Beweise für die Vorwürfe finden lassen werden.

Sie haben angedeutet, dass die Familie des Kellerkindes nicht zu den Reichen gehört. Gibt es einen Zusammenhang zwischen Armut und komplizierten Situationen für Kinder?

Das können Sie an den Zahlen ablesen, die hier in Bad Segeberg vorliegen. Demnach sind 64 Prozent der Eltern, die Kontakt mit dem Jugendamt haben, zugleich Klienten bei der Arge – sie beziehen also Arbeitslosengeld II.

Nach Ihrer Ansicht soll die Stärkung sozialer Räume zu einer Verbesserung der Situation von Kindern führen. Gibt es praktische Beispiele dafür, dass das gelingen kann?

Ja, die gibt es! Das geht von der Kita-Arbeit bis hin zu gruppenorientierter Elternarbeit. Wir müssen die Gemeinwesenarbeit stärker in der Mitte der Gesellschaft verankern, dann kann sich auch etwas verändern.