ZEIT.ORTE

Die braunen Bataillone

Ulf Schleth, geb. 1968, schreibt Texte und anderen Code, ist Mitarbeiter der taz und geprüfter Forschungstaucher. Dieser Text ist der erste Teil der längeren Erzählung „Imbiss International“. Weitere Texte sind auf www.schleth.com zu finden.

Ulf Schleth

Samstag, der 23. Dezember 1999, 1 Uhr nachts. Dicke Wattebäusche von Schneeflocken segeln aus der Dunkelheit herab auf die Straße. Nur wenige Gestalten sind so kurz vor der Weihnacht unterwegs, ihre Schals hochgezogen bis über die Nasen, ihre Schritte knirschen im Schnee, der schon bis über die Knöchel reicht. Ein ungewohnt idyllisches Bild für die Torstraße, in der sonst zu dieser Tageszeit hunderte von Nachtschwärmern ihrem Amüsement nachgehen. Aus der Tanzwirtschaft Kaffee Burger dringt gedämpft Musik. Ein müder Gast drückt die Tür auf und mit ihm drängen rauchgeschwängerte warme Luft und Balkan-Klänge in die klare Winterluft. Drinnen tanzen eine Handvoll Menschen. Die Wände werden geschmückt von gemusterten Tapeten, überzogen von bräunlich-gelbem Zigarettenkondensat. An der Bar sitzt Kurt, umschmeichelt von der liebevoll gepflegten Muschebubu-Lichtinstallation, fühlt sich unendlich wohl und unterhält sich mit dem Barmann, der ein Weinglas abtrocknet.

„… hast du das gelesen, gestern, von den Typen, die den Alkoholiker abgestochen haben, wegen acht Mark.“

Ludger, der Barmann, hält das Glas prüfend ins Licht. „Hat mir ein Gast erzählt. Ich liebe meinen neuen Job. Kann ich mir kaum vorstellen, dass die acht Mark den Ausschlag gegeben haben. Seltsame Freizeitbeschäftigungen haben die Leute heute.“

„Einer von den beiden hat den Alkoholiker schon vorher zusammen mit ein paar anderen Typen regelmäßig abgezockt. Wie ich es immer sage: Langeweile, keine Skrupel, schlechtes Elternhaus, Katalyse asozialer Verhältnisse durch schlechte Bildungspolitik, das eine führt zum anderen und alles zusammen mündet in brutaler Gewalt. Was haben sie noch mal dafür bekommen?“

„Der eine drei Jahre, der andere eineinhalb auf Bewährung. Strafmilderung wegen geistiger Umnachtung und Alkoholeinfluss.“

„Großartig: drei Jahre für ein Menschenleben, und wenn du dir vorher ordentlich einen ansäufst, gibt’s noch ’ne Prämie. Endlich mal ein bisschen Macht! Jemanden zu menschlichem Abfall erklären und immer feste druff! Scheiß Faschos. Die fangen immer ganz unten an.“

„Irgendwo müssen sie ja anfangen.“

„Findest du das witzig? Und was ist mit dir? Soweit ich weiß, würdest du auch ganz gern ein paar Leuten die Fresse polieren.“

„Ja vielleicht. Aber ich tu es nicht. Und das sind keine sozialen Randgestalten, ich fürchte, bei denen, die auf meiner Liste stehen, würde das ein bisschen mehr Wind machen.“

„Ich hoffe, ich bin nicht dabei.“

„Du bist doch selbst ’ne soziale Randgestalt. Abgeschlossenes Amerikanistik-Studium in der Tasche, einen McJob für 3,50 die Stunde und gibst dein bisschen Geld in den Bars der Gegend aus. Mit 33 sollte dir wirklich was Besseres einfallen.“

„Oh, wer unterhält sich da mit mir? Der Fachmann für geradlinige Lebensläufe? Was ist denn mit dir? Schreibst seit 3 Jahren an deinem Buch, und wenn du seit letztem Monat nicht weiter bist, steckst du immer noch fest auf Seite 78. Wenn du mich fragst, solltest du die paar Seiten in deinen Ofen werfen, wenn dir morgen die Kohlen ausgehen, und dich einfach damit abfinden, dass du den Rest deines Lebens die Gläser deiner verirrten Kunden polieren wirst. Und so tun musst, als würde dich ihr sinnloses Geschwätz interessieren.“

„Dein sinnloses Geschwätz geht mir jedenfalls langsam auf die Nerven.“ Ludger entblößt seine Zähne mit einem Grinsen. „Noch einen?“

Kurt nickt. „Du glaubst, du kannst so mit mir reden, weil ich dein Freund bin. Aber das muss nicht so bleiben, mein Bester.“

„Ich habe keine Freunde.“

„Nein, natürlich nicht, du bist ein trauriger Clown, wie konnte ich das vergessen.“

Ludger fixiert Kurt. „Ja, ich bin ein trauriger Clown.“

„Überfall eine Bank und mach deine eigene Bar auf, das ist die einzige Chance.“

„Verbrechen lohnt sich nicht“, sagt Ludger und grinst jetzt so breit, dass sein Grinsen selbst die Goldkrone auf der 15 ans Licht bringt, „gib mir Geld.“

Kurt hält Ludger sein Glas hin und sie stoßen an. „Auf Weihnachten.“

Ludger wendet sich mit einer aaligen Bewegung einem weiblichen Gast zu. Kurt schaudert und vertieft sich gedankenverloren in sein Getränk. Der Wodka wärmt von innen, das Burger von außen, er gähnt und eine Träne kullert ihm aus dem rechten Auge, lässt sich auf den Rest noch nicht geschmolzenen Eises fallen und rinnt herab, um sich mit dem Alkohol zu vereinen. Er nimmt das Glas in die Hand und schwenkt es langsam. Er denkt an den Übersetzungsvertrag, den er in der Tasche hat, im Januar würde er dreitausend Mark Vorschuss bekommen. Er schluckt den letzten Wodka in einem Zug, würgt leicht und blinzelt Ludger zu, der ihm bedeutet, kurz zu warten.

„Ich gehe. Muss ins Bett. Was macht das?“

„Geht aufs Haus.“ Ludger legt Kurt über die Bar hinweg eine Hand auf die Schulter. „Weihnachtsgeschenk.“

Kurt schiebt die Tür auf, draußen hat sich im Windfang vor der Tür eine Menge Schnee gesammelt. Er ordnet seinen Schal neu und knöpft seinen Mantel aus Kunstfell im Gehen zu. Er hört ein paar Jungs grölen, die ihm aus der Entfernung entgegenkommen, überlegt kurz, die Straßenseite zu wechseln, er hat keine Lust auf Lärm und folgt weiter den Flocken. Als sie fast auf seiner Höhe sind, sechs oder acht, um die zwanzig Jahre alt, sieht er, dass sie eine ausgelassene Nacht gehabt haben mussten, die Hälfte von ihnen ist mit Bierflaschen bestückt, die Jacke des einen lässt genau die Buchstaben des LONSDALE-Schriftzugs sichtbar werden, die Kurt auf den Tod nicht ausstehen kann. Scheiß Faschos. Er geht durch sie hindurch. Einer brüllt von der Seite.

„Guck dir die Schwuchtel an, was der für eine Frisur hat!“

„Ey ja, und dieser schwule Mantel!“

„Bist du schwul, Mann?“

Kurt guckt verächtlich, geht aber weiter, er hat keine Lust, sich jetzt noch in ein Scharmützel verwickeln zu lassen, er hört den Wind bereits die sirenenhaften Rufe seines Futons herantragen. Etwas Hartes schmettert an seine linke Schläfe. Kurt taumelt kurz. Das hat gesessen. Ein liebevoll zu einem Eisklumpen gepresster Schneeball lag auf dem Boden. Er tastet an seinem Kopf, fühlt aber nichts, die ganze linke Gesichtshälfte ist taub. Noch während er sich zu dem Werfer umdreht, ist der dabei, seine Jacke auszuziehen.

„Na was ist, Schwuchtel, komm doch her, ich mach dich fertig, ich mach dich kalt!“

„Du schwule Judensau, du bist doch Kacke, ich fick dir in die Fresse“ ein anderer.

Ein Tritt trifft Kurt von hinten. Er verliert das Gleichgewicht, rutscht aus und schon ist die ganze Meute über ihm. Einer tritt ihm ins Gesicht, der andere in den Magen und gegen den Hals. Alle stimmen ein Lied an: „… Die Straße frei / Den braunen Bataillonen / Die Straße frei / Dem Sturmabteilungsmann! …“

Kurt versucht vergeblich, Bauch und Hals zu schützen und sich auf die Seite zu drehen. Er sieht, wie sich einer anschickt, ihm seine Bierflasche auf den Schädel zu schlagen. Er will seine Hand schützend über das Gesicht heben, aber noch einer ist hinter ihm, mit einem Messer, sticht es ihm in seine Handinnenfläche und dann in andere Körperteile. Kurt fühlt sich wie in einem Film, er spürt keinen Schmerz. Dann sieht er die Bierflasche auf sich zu sausen.

Stille. Standbild. Die Flocken hängen in der Luft, die Schläger bewegen sich nicht, kein Ton, Stille. Absolute Stille.

Kurt nimmt einen süßen Geruch wahr. Es wird schwarz. Er sieht nichts mehr. Ihm wird warm, er hat das Gefühl, dicke Haare lägen auf seinem Gesicht und wärmten ihn. Er entfernt sich immer weiter von allem, was ist. The Long Now. Ein letzter Gedanke. Dann verliert er das Bewusstsein.

Als Kurt erwacht, hat er einen eigentümlichen Geschmack im Mund. Er hat das schon einmal geschmeckt, ihm fällt aber nicht ein, was es ist. Es schmeckt nach Eisen. Er spürt Schmerz am ganzen Leib. Seine Augen lassen sich nicht öffnen. Er strengt unter großen Qualen alle Gesichtsmuskeln an, um die Lider zu öffnen, aber etwas hält sie fest. Nur sehr langsam gelingt es, die Augen zu öffnen. Erst nur ein winziger Schlitz, dann etwas mehr. Noch mal so lange braucht er, bis er mehr erkennt als Schlieren von Hell und Dunkel. Er sieht wie durch Nebel ein Zimmer, in dem er noch nie gewesen ist. Es ist klein, vielleicht 2 mal 3 Meter und vier Meter hoch.

Ein kleines Fenster über ihm ist auf Kipp, er hört Lüftungsgeräusche und weiter entfernt das Rumpeln einer U-Bahn, deren Vibrationen sich bis in das Zimmer fortpflanzen und minutenlang die Einrichtung zum erklingen bringen. Das Licht kommt von einer Deckenlampe, nicht vom Fenster. Die Wände sind mit rotem Plüsch ausgekleidet. Hoffentlich ist er nicht in einem Puff gelandet. Eigenartig, sein Gefühl sagt ihm, dass das gestern kein Alkoholexzess war, sondern etwas anderes. Er erinnert sich nicht. Er versucht sich aufzurichten, stützt sich auf seiner Hand ab und schreit auf. Die Hand ist in einen Verband gewickelt, in der Mitte auf beiden Seiten der Hand Blutkruste.

Er setzt sich auf die Bettkante und starrt auf die Tür. Auch die Tür ist mit rotem Plüsch verkleidet und an ihr hängt ein Spiegel mit getöntem Glas. Unmöglich, sich hinzustellen. Auf allen Vieren kriecht er unter entsetzlichen Schmerzen zur Tür, er sieht an sich herab. Da sind noch mehr Verbände, ein paar lösen sich bei seinen Bewegungen. Seine gesunde Hand vergräbt sich in den Plüsch. Er zieht sich hoch. Als er in den Spiegel sieht, erkennt er sich nicht gleich, er sieht sich nur verschwommen. Sein ganzes Gesicht ist von Rinnsalen getrockneten Blutes bedeckt, in Form von Spinnweben, die von seinem Mund ausgehen. Er muss stundenlang aus dem Mund geblutet haben. Unterhalb seiner Lippe sieht er eine Naht aus dickem Garn. Er klappt mit der Hand seine Unterlippe herunter. Ein stechender Schmerz durchfährt seinen Kopf. Die Naht war auch von innen zu sehen. Ein drei Zentimeter langer Schlitz in der Unterlippe, den irgendwer akkurat zugenäht hat.

Ein Gefühl von Verzweiflung und Einsamkeit steigt in Kurt hoch, das Wasser schießt ihm in die Augen. Die Schmerzen werden stärker und er lässt sich auf den Boden sinken. Schwarzes Blut tropft aus ihm, er wird müde und seine Sinne schwinden. Weinend schläft er ein. Vielleicht nur ein Traum.

Fortsetzung folgt