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Die Kolonisierung der Welt

Akt der Solidarität: Mit „colony“ zeigt das Schwule Museum eine anspruchsvolle Gruppenausstellung aus der Türkei, in der es um die Dekonstruktion von Normativität geht. In Ankara durfte die Schau nicht laufen

Von Ingo Arend

Leichenteile? Neugeborene? Fleischreste? Schwer zu sagen, was die rosa Masse darstellen soll, über die man auf dem scheußlichen Terrazzoboden des Schwulen Museums fast stolpert: seltsam formlose Klumpen, überspannt mit rosa Latex, aus denen Fell sprießt – morbide und lustvoll zugleich.

Man sollte sich von der Si­gnal­farbe in İris Ergüls Arbeit „Vertebrae“ nicht täuschen lassen. Die skulpturale Installation ruft keineswegs nur ein klassisches LGTB-Motiv auf. Das amorph Zerfließende des Werks der Istanbuler Künstlerin ließe sich auch als Metapher für den generellen Versuch interpretieren, Dichotomien zu hinterfragen: die Grenzen zwischen Natur und Kultur, zwischen organisch und synthetisch. Mit festen Begriffen ist das nicht recht zu fassen.

Mit „colony“, seiner jüngsten Schau, ist dem Schwulen Museum ein beachtenswerter Doppelschlag geglückt. Zum einen ist die Ausstellung ein Akt der Solidarität. Denn sie gibt einer Schau, die es in der Türkei schwer hatte, zusätzliche Öffentlichkeit. Eigentlich sollte das Projekt der Kuratorinnen Derya Bayraktaroğlu and Aylime Aslı Demir in den Räumen des LSBTIQ*-Vereins Kaos GL in Ankara gezeigt werden.

Als die Regierung im November vergangenen Jahres dort alle Aktivitäten von LGTB-Gruppen untersagt hatte, wichen die Kuratorinnen nach Istanbul aus. Und zeigten die Schau im Dezember in einem unverdächtigen historischen Gebäude im Touristenbezirk Sultanahmet. Die Schau jetzt nach Berlin zu holen soll natürlich ein Schlaglicht auf die Bedrohung der Freiheit, nicht nur der Kunst, in der Türkei werfen. Wieder einmal zeigt sich, dass kleine, kritische, gut vernetzte Institutionen schneller auf solche Konfliktlagen reagieren können als die großen Kunst­tan­ker.

Durchaus selbstironisch

Das Interessante an ihr ist, dass sie die Dekonstruktion von Normativität, die inzwischen zu einem schon etwas sterilen Gemeinplatz des zeitgenössischen Kunstdiskurses geworden ist, durchaus (selbst)ironisch vornimmt. Die gewundenen Figuren, die die türkische Künstlerin Nilbar Güreş auf ihren Collagen „Lifting my Hair, Balance, Weak Power“ um Trainingsgeräte grup­piert hat, karikieren das Fit­ness­ideal – auch der LGTB-Szene – mit betont fragiler Körperlichkeit. Die Schau greift vor allem über das Geschlechtliche hinaus, das den Subtext queerer Ästhetik gemeinhin grundiert. Wenn die US-Künstlerin Jibz Cameron alias Dynasty Handbag in ihrem Video „Oh. Hummingbird“ als Dragqueen nackt auf einem Baumstumpf sitzt und seltsame Laute von sich gibt, scheint das noch am ehesten an die schrille Ironie zu erinnern, mit der sie die starre Geschlechterordnung auf die Schippe nimmt. Wer genau hinhört, bemerkt, dass es bei dem (türkischen) Text, den sie in der rasanten Collage spricht, um die Schönheit der Natur und ihre drohende Zerstörung geht. Ähnlich Katja Novitskovas Tierbilder aus dem Netz, „Approximation (Octopus)“.

So wie sie diese zu reliefartigen Skulpturen abstrahiert, will sie damit aufzeigen, wie die Medien Welt, Kultur und Natur neu definieren, wie ihre Repräsentationen ihren eigentlichen Platz einnehmen. Noch einen Schritt weiter geht Kerem Ozan Bayraktar. In seinem Video „Mimicry“ geht der Istanbuler Künstler den Zusammenhang zwischen Natur und Kultur nach. Die eineinhalbminütige Arbeit zeigt die Produktion von Orchideenpflanzen in einer Blumenfabrik.

Die Maschine steuert zunehmend Aussehen und Erscheinung der Pflanze, übernimmt die Rolle des Reproduktionsmediums Natur. Spätestens hier wird klar, dass es der Schau um die Kritik an der Zurichtung der Natur geht, daran, wie das Lebendige in den industriellen Kreislauf inkorporiert wird – die Kolonisierung der (Lebens-)welten.

Kleine, gut vernetzte Institutionen reagieren schneller auf Konfliktlagen als große Kunsttanker

Eine klar umrissene, „queere Utopie“, wie sie die Ausstellung postuliert, sieht man in der anspruchsvollen, formal avancierten Schau eher nicht, wenn man von der allgemeinen Absage an binäre Codes einmal absieht. Doch in der Geschichte wird man fündig.

In ihrer Arbeit „Tö“ hat die Istanbuler Künstlerin İz Öztat die historische Figur einer osmanischen Frau namens Zişan erfunden, die von 1894 bis 1970 gelebt haben soll. In dem „Utopie Folder“, einer Sammlung von Texten und Fotografien, lässt sich Zişans Desillusionierung nach dem Ersten Weltkrieg nachvollziehen, ebenso ihr Wirken in den damaligen revolutionären Bewegungen.

Anarchistisches Manifest

Enthalten ist in dem Konvolut auch die „Çete-i Nisvan – Declaration of Women’s Gang“, ein tatsächlich existierendes, übersehenes Pamphlet von 1925, aus der Zeit zwei Jahre nach Gründung der Türkischen Republik. Das anarcho-feministische Manifest erschien in der von der türkischen Frauenrechtlerin Nezihe Muhiddin mitbegründeten Zeitschrift Woman’s Path. „Why be their slaves when you could be one of us? Don’t sign up!“ steht über einem Foto einer Gruppe von Frauen, die sich gegen Krieg und Armee wenden. Ihre Absage an Nationalismus, Militarismus und konservative Moral ist fast hundert Jahre alt. In Zeiten, in denen der türkische Staatspräsident ein weinendes Mädchen zur Märtyrerin eines heiligen Krieges erklärt, könnte sie kaum aktueller sein.

colony. Schwules Museum, Lützowstraße 73, 14–18/20 Uhr. Bis zum 15. April

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