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Im Jetzt

Vielfalt, eine pluralisierte Gesellschaft, verändert alle. Warum es mehr Aufwand bedeutet, weniger Ich zu sein

Foto aus dem Zyklus „Willkommen in Wies“, in dem die Fotografin Lena Giovanazzi die Ankunfts­geschichte von Geflüchteten in einem Dorf im Südschwarzwald erzählt Foto: Lena Giovanazzi

Von Isolde Charim

Im 19. Jahrhundert gab es in den USA ein Ritual: Bei ihrer Ankunft mussten Migranten durch eine Scheune. Einmal drinnen, mussten sie ihre Tracht ablegen, um dann, als Amerikaner eingekleidet, auf der anderen Seite der Scheune herauszukommen. Ein hollywoodreifes Bild.

Jetzt kann man sagen – gut, das war im 19. Jahrhundert so. Damals hatte man noch eine rigide Vorstellung von der eigenen Kultur – und auch von jener der anderen. Damals hatte man noch die Vorstellung, ein Neuankömmling müsse sich gänzlich anpassen, er müsse sich assimilieren, seine eigene Kultur ablegen wie seine Kleidung und die neue Kultur vollständig übernehmen. Überziehen wie eine neue Tracht. Tatsächlich aber ist diese Scheune kein verstaubtes Relikt des 19. Jahrhunderts. Denn die Scheune existiert nach wie vor in unseren Köpfen.

Sie prägt unsere Vorstellung von Migration. Heute sprechen wir zwar nicht mehr von Assimilation, sondern von Integration. Das ist zweifellos ein Fortschritt. Aber meistens ist das nur ein gradueller Unterschied. Integration meint zwar nicht völlige Anpassung, aber der Weg durch die amerikanische Scheune scheint immer noch die Richtung vorzugeben. Die Scheune prägt letztlich unsere Vorstellung einer pluralisierten Gesellschaft.

Diese Vorstellung von Pluralisierung beruht auf dem grundlegenden Missverständnis, dass die Vielfalt, dass die Pluralisierung eine Gesellschaft unverändert ließe. Die Frage ist hier nicht, ob Integration gut oder schlecht sei. Die Frage ist: Worum geht es, wenn man nach Integration ruft? Welche Vorstellung hat man, wenn man von Integration spricht? Und da muss man sagen: Es ist die Vorstellung, durch Integration, durch einen gewissen Grad von Anpassung könne die Gesellschaft so bleiben, wie sie bisher war. Das ist die trügerische Gewissheit, die die Rede von der „Integration“ garantieren soll.

Woher aber rührt dieses Missverständnis? Es rührt daher, dass man glaubt, gesellschaftliche Vielfalt sei eine Ansammlung unterschiedlicher Kulturen und Religionen. Gesellschaftliche Vielfalt sei einfach eine Addition. Da gäbe es das Bestehende, das sind die Einheimischen, und zu denen käme dann einfach etwas Neues hinzu: die Türken, die Jugoslawen. Später die Serben, die Kroaten, die Kosovaren. Dann kamen die Polen, die Slowaken. Irgendwann dann „die“ Moslems. Und nun die Flüchtlinge. Aber Pluralisierung ist keine Addition. Es ist ein Gebot der Stunde zu verstehen, was Pluralisierung eigentlich bedeutet. Und da muss man zweierlei festhalten: Erstens: Pluralisierung ist ein unhintergehbares Faktum. Es gibt keinen Weg zurück in eine nicht-plurale, in eine homogene Gesellschaft. Auch nicht durch noch so viel Integration. Da hilft keine Scheune. Das Faktum der Pluralisierung lässt sich nicht rückgängig machen.

Und zweitens: Pluralisierung ist kein äußerlicher Vorgang. Die Vorstellung einer Addition ist trügerisch. Sie suggeriert nämlich, die einzelnen Posten der Addition blieben unverändert. Als ließe die Addition die Menschen, die sie verbindet, unverändert. Die Vorstellung der Addition ist eine Erzählung, die einen blinden Fleck erzeugt. Dieser blinde Fleck, also das, was verkannt wird, lautet: Die Pluralisierung verändert uns alle. Genau diese Veränderung wird durch die Vorstellung von einer Addition verdeckt. Die Pluralisierung verändert aber nicht nur die, die neu hinzukommen. Sie verändert auch die, die schon da waren. Eben weil sie keine einfache Addition ist. Die Pluralisierung affiziert, sie erfasst uns alle.

Kopf und Bauch

Es ist also wichtig, sich nicht nur klarzumachen: Was verändert sich?, sondern auch: Was macht die Pluralisierung mit uns? Wie verändern wir uns? Was verändert sich an uns? Denn das ist der zentrale Punkt: Wir verändern uns alle.

Vor einiger Zeit konnte man in Wien an vielen Orten ein Plakat sehen: ein türkisfarbenes Bild, auf dem stand: „Der Bauch sagt: Respekt ist Kopfsache.“ Darunter vier Köpfe: ein Mann mit jüdischer Kippa, ein Schwarzer, eine Frau mit Kopftuch und ein Mann mit Trachtenhut. Man sieht die vier Köpfe von hinten. Es geht also nicht um die einzelnen Individuen. Diese sind Träger von Zeichen, von Zeichen, die sie unterscheiden. Sie sind Repräsentanten von Ethnien, Religionen, Klassen. Interessant an dem Bild ist, dass der Trachtenhutträger Teil dieser Reihe ist.

Er ist ein Typus unter anderen. Das entspricht der heutigen Realität. Aber man muss sich vor Augen halten, was das tatsächlich bedeutet. Noch vor einiger Zeit – und diese Zeit ist noch nicht lange her – waren der Mann im Lodenmantel mit Gamsbarthut und auch die dazugehörige Frau, da war dieser Typus nicht einer unter anderen. Da war er in Österreich hegemonial. Er war kulturell und identitätspolitisch vorherrschend. Er war es, der die Normalität bestimmte. Heute ist dieser Herr nicht nur auf dem Plakat eingereiht. Er hat auch real seine Hegemonie, seine Vorherrschaft, verloren. Das zeigt das Bild sehr deutlich. Und sehr einprägsam.

Und genau daran kann man die Veränderung, die die Pluralisierung bewirkt, ablesen. Diese Veränderung ist eine doppelte. Sie findet auf zwei Ebenen statt. Es ist eine Veränderung der Zugehörigkeit, also eine Veränderung der Art, wie wir der Gesellschaft angehören. Und es ist eine Veränderung unserer eigenen Identität. Die Pluralisierung verändert unseren Bezug zu anderen, und sie verändert den Bezug zu uns selbst, die Art, wie wir uns auf uns selbst beziehen.

Was die Zugehörigkeit angeht, so muss man sagen: Man kann heute nicht mehr auf dieselbe Art Deutscher oder Österreicher sein wie früher. Wobei dieses ungetrübte „Früher“ natürlich auch eine Verklärung ist. Aber die deutsche Kultur oder die österreichische Kultur – wie auch immer man diese bestimmt – lassen sich nicht so aufrechterhalten, wie dieses „Früher“ unterstellt.

Nicht weil die Berge weniger hoch, die Wälder weniger grün sind oder das Jodeln weniger krächzend wäre. Sondern einfach weil diese Form des Deutsch- oder des Österreichischseins nicht mehr die einzige Form ist. Weil dieses Milieu nicht mehr das einzige Milieu ist, weil diese Kultur nicht mehr das einzige kulturelle Koordinatensystem in diesen Ländern ist.

Keiner kann heute seine Kultur noch so leben, als ob es keine andere Kultur daneben gäbe. In gemischten Gesellschaften steht jede Kultur neben anderen Kulturen. Das aber heißt: Es gibt keine selbstverständliche Kultur, keine selbstverständliche Zugehörigkeit mehr. Und das ist eine wirklich einschneidende Veränderung. Denn eine wesentliche Funktion von Kultur ist es, Evidenz zu erzeugen – also einen unmittelbar einleuchtenden Zugang zur Welt. Einen unhinterfragten, eben einen selbstverständlichen Zugang.

Wie wir dazugehören

Heute aber gibt es keine Zugehörigkeit, die ihre Selbstverständlichkeit nicht gegen andere Selbstverständlichkeiten behaupten muss. Heute muss jede Zugehörigkeit ihre Evidenz gegen andere Evidenzen behaupten. Sie muss neben anderen Evidenzen bestehen.

Eine Selbstverständlichkeit aber, die infrage gestellt wird, ist gerade das nicht mehr: eine Selbstverständlichkeit. Damit wird die Außenperspektive auf jede Kultur Teil ihrer Innenperspektive. Die Außenperspektive, dass es nämlich immer anders sein könnte: dass man jemand anderer sein könnte, dass man etwas anderes glauben könnte, dass man anders leben könnte. Diese Außenperspektive ist heute notwendigerweise Teil jeder Identität, jeder Kultur. Sie ist Teil der Innenperspektive geworden.

Peter Berger nennt das eine „kognitive Kontamination“, eine andauernde Interaktion mit anderen, die unsere eigene Sicht der Welt relativiert, die Gewissheiten unterläuft, die Selbstverständlichkeiten unterminiert. Es ist dies eine ebenso schöne wie auch problematische Formulierung. Zum einen, weil dieser Vorgang kognitiv nur im Sinne einer Erfahrung, eines Erlebens, nicht aber im Sinne einer Erkenntnis ist. Zum anderen aber trifft „Relativierung“ den Vorgang nicht genau. Denn die würde bedeuten, dass die eigene Kultur durch das In-Beziehung-Setzen zu anderen Kulturen bedingt wird. Der Vorgang, den wir heute beobachten, ist aber nur insofern eine Relativierung, als die Selbstverständlichkeit eingeschränkt wird – also keine Selbstverständlichkeit mehr ist.

Diese Veränderung ergreift uns nun alle. Sie verändert völlig die Art, wie wir heute „dazugehören“. Sie verändert den Bezug zu „unserer“ jeweiligen Gemeinschaft. Welcher Art diese Veränderung ist, lässt sich genau angeben: Dieser Bezug ist heute nicht mehr naiv zu haben. Nicht mehr naiv in dem Sinne, dass er nicht mehr direkt, nicht mehr unmittelbar, nicht mehr selbstverständlich ist. Die Zugehörigkeit zur Gesellschaft muss man sich gewissermaßen „erarbeiten“. Man muss sie behaupten. In diesem Sinn ist Zugehörigkeit nicht mehr voll und ganz zu haben. Sie ist nicht mehr vollständig und umfassend. Das ist die neue psychopolitische Voraussetzung für unser aller Integration. Und das ist ein durchaus schwieriger Vorgang.

Für den ­Trachtenhutträger etwa bedeutet der Verlust der Selbstverständlichkeit gleichzeitig auch den Verlust seiner Vormachtstellung. Das ist ein schmerzhafter Prozess. Schon allein das Nebeneinander auf dem Plakat ist für ihn eine Zumutung. Dieses ist nicht Folge von Respekt. Es ist Folge einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Diesem Nebeneinander liegt ein Konflikt, ein Kampf um gesellschaftliche Macht zugrunde.

Aus: Isolde Charim, „Ich und die Anderen. Wie die neue Pluralisierung uns alle verändert.“ © Paul Zsolnay Verlag, Wien 2018. Das Buch erscheint am 12. 3. 2018

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