: Der alte Mann und die Wurst
Der Bayer Wolfger Pöhlmann ist durch Deutschland gereist, um für seine Kulturgeschichte der Wurst zu recherchieren. Weit gekommen ist er dabei nicht
Von Lukas Thöle
Das Gute zuerst: Auch Norddeutschland hat eine Wurstkultur. Grünkohl ohne Pinkel? Nein, danke. Diese unansehnliche, aber leckere Masse namens Knipp? Das ist Grützwurst. Und Hamburger Mettwürste sind besser als bayrische Weißwürste. Die schlechte Nachricht: Mit „Es geht um die Wurst“ von Wolfger Pöhlmann ist im Knaus-Verlag ein Wurstatlas erschienen, der dem Süden vielleicht gerecht wird, dem Norden aber nicht.
Drei Jahre reiste Pöhlmann für seine Kulturgeschichte der Wurst durch Deutschland. Als Kunsthistoriker suchte er nach der Einheit von Werk und AutorIn. „Der Fleischer ist der Künstler, die Würste sind sein Werk“, sagt er. Auch beim Wurstatlas sind Autor und Werk eins. Pöhlmann liebt Wurst, aber die Liebe begann zögerlich. In seiner Kindheit durfte nur der Vater von der wöchentlichen Wurstration essen, eigene Wurst gab es nur an Geburtstagen und zur Konfirmation. Heute schenkt Opa Pöhlmann seinen Enkeln Stoffwürste statt Teddys. Gute Kunst ist das aber nicht, denn das Buch spiegelt die Perspektive des Autors: alt, weiß, männlich und bayrisch.
Woher die Wurst kommt und warum es sie gibt, erfahren LeserInnen nicht. Was ist Brät? Warum „wolft“ man Fleisch? Kenntnisse grundlegender Begriffe setzt Pöhlmann voraus. Er erklärt aber, dass der norddeutsche Schlachter im Osten „Fleischer“ und im Süden „Metzger“ heißt. Im Süden kennt Pöhlmann sich aus. Er unterscheidet acht Metzger am Münchner Viktualienmarkt, nennt ihre Spezialitäten und kürt die beste Wurst zwischen München und Nürnberg. Das Kapitel liest sich wie ein „Who is who“ der süddeutschen Schlachterszene. Auch von Bräuchen erzählt Pöhlmann. Woher kommt die Weißwurst, was ist „zuzeln“? Fragen, die man sich nie stellte, werden interessant beantwortet.
Aber je weiter sich der Autor in den Norden vorwagt, desto mehr verkommt die versprochene Kulturgeschichte zu einem Reisebericht. Hätte etwa der Verlag auf Kapitel zu Norddeutschland bestanden, weil ein Buch allein zur süddeutschen Wurstkultur im Norden niemanden interessiert? Diesem Teil fehlt es an Umfang: Berlin und Brandenburg inklusive kommen die norddeutschen Länder auf 130 gegenüber 156 Seiten für Bayern und Baden-Württemberg, als gäbe es dort mehr Wurstkultur. Vor allem aber fehlt diesem Teil die Tiefe. Pöhlmann hat Bremer Pinkel wohl nur zu Recherchezwecken verspeist.
Statt um die Wurst des Nordens kümmert er sich um Kuriositäten. LeserInnen erfahren, dass die Rügenwalder Mühle in Bad Zwischenahn steht und Hamburger gern Kuscheltiere schlachten. Eindimensional ist auch Pöhlmanns Umgang mit Fleisch. Tiere sollen gut leben, damit Fleisch und Wurst schmecken. „Wenn ein Tier scheiße ernährt und scheiße geschlachtet wird, dann kann die Wurst nur scheiße schmecken“, zitiert er einen Schlachter aus Rügen. Die Industrie ist böse, traditionelle SchlachterInnen gut. Die werden aber immer weniger: Die Wurst ist in Gefahr! Blumensträuße aus Wurstaufschnitt und andere makabre Zierwurst sind für Pöhlmann aber okay: Wurstkunst.
In der Wurst liegt die Wahrheit. Das sagt der Philosoph Harald Lemke, der in seiner „Ethik des Essens“ den Wahrheitsbegriff von Wurstliebhaber Friedrich Nietzsche mit einer solchen vergleicht. Für Nietzsche, der sich Pakete mit geräucherter Braunschweiger nach Sils Maria schicken ließ, war die Wahrheit nicht rein, sondern bestand aus vielen Teilwahrheiten – ist also „verwurstet“, sagt Lemke. Und wie die Wurst müsse auch die Wahrheit enthüllt werden, um sie zu verstehen. Genau das will Pöhlmann aber nicht. Und während Nietzsche lebenslang mit dem Vegetarismus geliebäugelt hat, muss bei Pöhlmann die Wahrheit bluten. Nur Fleischwürste gehören in seinem Buch zur deutschen Kultur. Andere ignoriert er. Damit wirkt er wie die Inkarnation des schlechten Philosophen, der sich nach Nietzsche mit dem Schein begnügt und die Wahrheit unhinterfragt schluckt.
Dabei sollte eine Kulturgeschichte ja genau zeigen, wie sich Kultur wandelt. Pöhlmann aber geht es eher um eine Momentaufnahme, gespickt mit Anekdoten oder gar Legenden.
So erzählt er zwar, wie Konrad Adenauer die fleischlose Wurst erfunden hätte, doch wie die Veggie-Wurst die deutsche Wurstkultur ändert, der Frage geht er nicht nach – geschweige denn, dass er in die von Lemke angestoßene Diskussion einsteigt, ob es möglich ist, mit Pflanzenwurst eine moralische Frage in eine technische Angelegenheit umzuformulieren und dadurch den kulinarischen Immoralismus der Lust am Fleischgeschmack in eine machbare Praxis zu überführen.
Schlachter von Rügen
Pöhlmanns Kulturgeschichte endet, wo die Wurst aus Soja besteht. Er fühlt sich und seine Wurst vom Vegetarismus bedroht. Anders lassen sich die plumpen Sticheleien im Buch nicht deuten. Er zeichnet konsequent das Bild der militanten VegetarierInnen, die alles und jeden bekehren wollen. Das ist fad.
Interessanter ist, wenn er sich dem Thema als Kunsthistoriker nähert. Niedersachsen exportiert Fleisch in 125 Länder, 800 Mastbetriebe gibt es allein im Landkreis Vechta. Diesen Zahlen stellt er ein Bild des anonymen Künstlers „K49814“ entgegen. Es zeigt einen kegelförmigen Berg in Grautönen. Wer genauer hinschaut, erkennt Ohrmarken. 11.000 Schweineohrmarken – das entspricht der Anzahl von Tieren, die in Niedersachsen an einem Tag in nur einem Betrieb geschlachtet werden.
„Es geht um die Wurst“ – was der maximal unoriginelle Titel des Werks bereits befürchten lässt: Der Humor des Autors ist so deutsch wie sein Thema. Pöhlmann findet es lustig, wenn ein Moslem an einem Freitag Schweinefleisch kauft. Das ist ungefähr so witzig wie ein Katholik, der an einem Freitag keinen Fisch isst – gar nicht. Er verhehlt auch nicht, dass Wurst für ihn etwas Männliches ist. Witze über Travestiekünstlerin Conchita Wurst gehen da immer. Klar, als Kunsthistoriker erkennt er in der Bratwurst einen Phallus – aber auch der Grill ist für Pöhlmann Männerdomäne. Immerhin: Frauen- und Männerwürste will er dann doch nicht.
Pöhlmann weckt den Wissensdurst, ohne ihn ganz zu befriedigen. Immerhin macht die Lektüre Appetit – auf Wurst von glücklichen Tieren und vom lokalen Schlachter. Man überlegt im Supermarkt zweimal, ob man abgepackte Wurst aus dem Kühlregal mitnimmt. Und man wünscht sich, dass jemand die Geschichte dieses Kulturguts ernst nimmt und zotenfrei ergründet.
Wolfger Pöhlmann: „Es geht um die Wurst. Eine deutsche Kulturgeschichte“, Knaus-Verlag, 464 S., 26 Euro, eBook 22,99 Euro
Harald Lemke: „Ethik des Essens. Einführung in die Gastrosophie“, Transcript, 592 S., 39,99 Euro
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