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Sexualität und Cut-and-paste

Die Schriftstellerin Kathy Acker war ein Star des Underground – und wurde dann vergessen. Die Biografie von Chris Kraus möchte das wieder ändern

Einflüsse von den Beatniks bis zum Nouveau Roman, von Bataille bis zu No Wave und Punk: Kathy Acker 1995 Foto: Bob Berg/Hulton/getty

Von Jens Uthoff

Anfang der 1970er Jahre schrieb Kathy Acker in einem Prosagedicht mit dem Titel „The Revolution and After“ lapidar den Satz: „Selbst unter Freaks bin ich ein Freak.“ Für sie ist das nur eine kleine Randnotiz, in deren Folge sie ihr rastloses Umherstreifen ohne Geld und ohne Ziel durch den US-Westen skizziert, um kurz darauf – typisch für sie – thematisch weiterzuspringen und zur Kritik an ihrem Schreibstil zu kommen. Und doch sagt diese kleine Anmerkung viel über das Wirken Ackers in der amerikanischen (Underground-) Literatur. Denn es stimmt ja: Selbst unter Freaks war sie ein Freak.

Die Schriftstellerin Kathy Acker, als Karen Lehman 1947 in New York geboren (wobei es widersprüchliche Angaben über das Geburtsdatum gibt) und 1997 im mexikanischen Tijuana gestorben, war ein Protopunk der Literatur, Pionierin eines postmodernen Feminismus in der Literatur. Acker hat in Prosa, Lyrik und Essays über Begehren und Sex geschrieben. Sie war Stripperin und Sexarbeiterin, Sängerin und Literaturdozentin, Motorradfahrerin und Bodybuilderin.

Geprägt war Kathy Acker von William S. Burroughs und den Beatniks, vom französischen Nouveau Roman und von Georges Bataille, von No Wave und Punk. Gelebt hat sie unter anderem in San Diego, New York, San Francisco, London. Und was für eine Erscheinung sie war! Kurzes, wasserstoffblondes Haar, ein volltätowierter Rücken, die Ohren voller Ringe, gerne auch Lack, Plüsch oder Leder am Körper.

Und doch: Heute, 20 Jahre nach ihrem Tod, spricht kaum jemand über sie.

Das könnte sich ändern. Mit „After Kathy Acker: A Biography“ liegt nun die erste autorisierte Biografie über sie vor. Kürzlich ist sie in Großbritannien und den USA erschienen, man darf hoffen, dass sich bald ein deutscher Verlag für die Übersetzung findet. Geschrieben hat sie die US-Au­torin Chris Kraus, die in Deutschland zuletzt mit ihrem erst jetzt übersetzten Roman „I Love Dick“ (1997) erfolgreich war. Wie Acker kommt Kraus aus der New Yorker Postpunk- und Kunstszene, verheiratet war sie mit dem Kulturkritiker Sylvère Lotringer, der einst mit Acker zusammen war.

Diese Biografie ist überfällig – und das nicht nur, weil Acker eine solch unkonventionelle Vita hatte, die sie auch in Literatur übersetzte (wobei sie selbst sagt, das Schreiben komme zuerst: „I have to make all my living as interesting to myself as my writ­ing“, zitiert Kraus sie mehrfach).

Nein, auch deshalb, weil sie eine Künstlerin ohne Tabus war, weil sie mit ihren detaillierten Darstellungen von Körperlichkeit zutiefst verstörte. Inzest war ein wiederkehrendes Sujet bei Acker, zum Beispiel in ihrem bekanntesten Werk „Blood and Guts in High School“ (1984), dessen deutsche Ausgabe („Harte Mädchen weinen nicht“, 1986) auf den Index gesetzt wurde. Begründung: Der Roman enthalte „primitives Vokabular“ und eine „banale Sprache der Gosse“. Promiskuität und Sexualität in verschiedenen Formen stehen im Zentrum ihrer Werke. In einer feministischen Adaption des Don-Quixote-Stoffes im Jahr 1986 schreibt Acker: „I won’t go against the truth of my life which is my sexuality.“

Acker war und ist dennoch eine unbekannte Größe in der Literaturwelt. Als die Biografin Kraus etwa mit Bob Acker, ihrem ersten Ehemann, in Kontakt tritt, schreibt der ihr: „Ich bin überrascht, dass es Interesse an diesem Thema gibt. Ich sehe ihre [Kathy Ackers] Bücher nie mehr in Buchläden liegen, und ich besuche ziemlich oft welche.“ Damit hat er recht. Auch in Deutschland ist nur ein einziges Buch („Meine Mutter. Eine Dämonologie“) von Acker lieferbar. Sowieso ist nur knapp die Hälfte ihrer rund 25 Werke übersetzt worden. Man fragt sich: Ist Acker als Autorin völlig unterschätzt – oder wurde sie zu Recht vergessen? War sie als jung Gestorbene eine Unvollendete? Und was hat Ackers Werk mit unserem Heute zu tun?

Kraus hat wahnsinnig intensiv recherchiert. Sie hat mehr als 60 Leute interviewt, darunter viele bildende Künstler, Autoren und Wissenschaftler, die ihr nahestanden. Sie zitiert aus sehr vielen Werken, aus Briefen, Mails und Aufzeichnungen Ackers, aus der Sekundärliteratur. Es gibt sehr viel O-Ton Kathy Acker. Kraus erzählt ihr Leben, vom Einstieg mit der Trauerfeier abgesehen, chronologisch.

Acker stammt aus einer jüdischen Mittelklassefamilie. Nachdem Vater Donald Lehman die Familie noch vor ihrer Geburt verlässt, wächst sie mit Mutter Claire Lehman und deren neuen Partnern auf. Ihre Mutter erlebt sie bis ins Erwachsenenalter als dominante Figur, Ende der 1970er Jahre begeht die Mutter aber Suizid. Ackers Werk ist gezeichnet von ihrer Kindheit, so taucht der verlassende Vater oft in ihren Erzählungen auf.

Acker ist eine gute Schülerin, studiert später Klassische Altertumswissenschaft und Philosophie, zunächst an der Brandeis-Universität in Massachusetts, später in San Diego (unter anderem bei Herbert Marcuse) und in New York. Ihr literarisches Debüt legt sie mit 25 Jahren vor.

Als literarische Techniken benutzt sie oft Cut-and-paste-, Sampling-, Remix- und Rewriting-Verfahren. Einen Literaturbegriff des geistigen Eigentums findet sie nicht mehr zeitgemäß, macht sich über ihn lustig: „This writing is all just fake (copied from other writing) so you should go away and not read any of it“, schreibt sie 1983 in einer Erzählung. Ihre Neigung, sich bei anderen Autoren zu bedienen, kommt unterschiedlich gut an: Von Burroughs bekommt sie die „ausdrückliche Erlaubnis“ dazu, während US-Autor Harold Robbins sie verklagt.

Mutter – eine Dämonologie

Und doch bleiben ihre Arbeiten bis heute interessant. Weil sie einen mit jedem Satz daran erinnert, wie wichtig es ist, dass es keine Denkschranken in der Literatur gibt

Ackers Schreibstil ist hochassoziativ. Grundiert ist er von Psychoanalyse und postmoderner Theorie. Kraus zitiert in ihrer Biografie die Autorin Dodie Bellamy, die in einem Essay treffend feststellt: „Acker liberates libido from Freud’s repressed underworld.“ In der Tat kann man Ackers Werk fassen, wenn man es als Sublimierung auf literarischer Ebene zu begreifen sucht. In „Meine Mutter. Eine Dämonologie“ schreibt Acker selbst – mit Verweis auf den französischen Surrealisten Gilbert Lély – über Sublimierung: „Gilbert Lély gemäß, der sich auf eine Art Freudianismus beruft, ist eine der Möglichkeiten, wie ein sadistisch veranlagter Mensch verhindern kann, dass aus seiner/ihrer Neurose eine Psychose wird, die Sublimierung seiner/ihrer asozialen Triebe in Kunst.“

Auch Punk und Pop waren be­deutend für Acker. Es habe, zitiert Biografin Kraus den Londoner Autor Michael Bracewell, zuvor keinen zeitgenössischen Autor gegeben, der wie sie die Welt von Popkultur und Postpunk in die Literatur gebracht hätte, geschweige denn die Kritische Theorie. Dazu kommt: Kathy Acker experimentiert auch mit der Verbindung von gelesenem Text und Sound­scapes. Bis kurz vor ihrem Tod tritt sie mit der Band The Mekons auf.

Aber bei Kraus klingen wahrlich nicht nur Elogen auf diese Autorin an. So berichtet sie, wie respektlos Acker sich zum Teil im Privaten verhalten habe. Als sie sich in London bei einem befreundeten Kulturhistoriker einnistet, beginnt sie eine „laute Affäre“ in dessen Wohnzimmer, wie der sich erinnert. Dessen Familie kann fortan nicht mehr ins eigene Wohnzimmer. Sie schmeißen Acker raus.

Literarisch bleibt sie ebenso umstritten. Autor und Filmemacher Gary Indiana mutmaßt in Bezug auf ihr Werk, dass sie einfach zu viel geschrieben und oft das Interesse am Stoff verloren habe, bevor das Buch abgeschlossen gewesen sei. Den herben Verrissen, die Acker in den Achtzigern nahezu durch alle Medien hindurch einfährt – zum Beispiel für „Empire of the Senseless“ (1988) –, räumt Kraus viel Platz ein.

Und doch bleiben Kathy Ackers Arbeiten bis heute interessant. Sei es, weil die Schreibweise der frühen Beat- und Popautoren heute alles andere als à la mode sind und man sich mehr Punk in der Literatur wünschte. Sei es, weil die Plagiatsdebatte immer wieder aufpoppt und weil die Literatur sich mit Samplingtechniken immer noch schwerer tut als die Musik (und der Diskurs auch anders geführt wird). Oder sei es, weil man das Gefühl eines gerade aufziehenden, neuen Puritanismus in Kunst und Gesellschaft hat. Und weil Acker einen mit jedem einzelnen Satz daran erinnert, wie wichtig es ist, dass es keine Denkschranken in der Literatur gibt.

Als Acker 49 Jahre alt ist, kommt der Krebs. Erst lässt sie sich die Brüste entfernen. Ein Jahr später ist der ganze Körper befallen. Leber, Niere, Knochen, Bauchspeicheldrüse, Lymphknoten. Am 30. November 1997 stirbt sie im Alter von 50 Jahren.

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