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Sie brechen das Eis ganz leicht

Die Initiative Rollenfang unterstützt SchauspielerInnen mit Behinderung, in Filmproduktionen zu kommen. Denn unbeantwortet ist, warum sie nicht ganz normale Rollen spielen können

Von Luciana Ferrando (Text) und Piero Chiussi (Fotos)

Was für eine Ansage: „In einer Minute seid ihr tot.“ Sofort greift sich eine junge Frau an den Hals, röchelt, bekommt keine Luft. Eine andere liegt zuckend am Boden, die Augen verdreht, ein Mann stützt sich verkrampft an einer Ecke ab und fällt. Niemand wird erschossen, niemand springt von einer Klippe. „Gut, sehr gut!“, ruft der Schauspieltrainer. Sofort hören sie auf zu sterben.

Vier Frauen und vier Männer mit und ohne Behinderung nehmen am Workshop für SchauspielerInnen teil. Die Initiative Rollenfang hat ihn organisiert. Sie vertritt professionelle SchauspielerInnen mit körperlicher oder geistiger Behinderung. „Wir wollen der Branche beweisen, dass die Zusammenarbeit für alle ein Fortschritt ist“, sagt Wolfgang Janßen, der die Initiative 2015 gründete.

Auf die Idee kam der ehemalige Verwaltungsleiter der Berlinale, als er keine Agentur für sein mit Down-Syndrom geborenes Patenkind Max Dominik fand. In einem Fernsehfilm hatte der den kleinen behinderten Bruder von Corinna Harfouch gespielt, seitdem träumt der heute 20-Jährige davon, Schauspieler zu werden. „Wenn SchauspielerInnen mit Behinderung überhaupt im Film und Fernsehen zu sehen sind, dann spielen sie Verwandte mit Behinderung oder Nerds“, sagt Janßen. „Dass sie auch Gärtnerin, Bankangestellter oder Köchin sein können, fällt den Produktionsfirmen nicht auf.“ Rollenfang will das ändern.

Kathi Bromka ist eine der TeilnehmerInnen am Workshop. Die 30-Jährige ist mit ihrer Assistentin aus Hamburg eingereist. Gerade schaut sie einer Improvisation zu, in der ein Vater seinen Sohn erdrosselt und dieser sagt: „Ich bin begraben von deiner Liebe“.

Kathi betrachtet das mit aufgerissenen Augen. „Alles okay“, flüstert die Betreuerin und hält ihre Hände. Kathi atmet tief ein und aus, ihre schwarzen Locken verdecken teilweise ihr Gesicht. „Gott sei Dank!“, sagt sie, als die Übung vorbei ist.

„Der Vater war so Kinski“, sagt jemand. Alle lachen. Kathi lacht mit. In Hamburg trainiert sie jeden Tag in der Theaterwerkstatt „Meine Damen und Herren“. Sie tanzt und singt gerne und spielte bei Videoclips der Hamburger Band „Station 17“, mal als Königin der Toten, mal als Starsängerin. „Wenn das Publikum mich sieht und denkt, sie ist Schauspielerin, bin ich präsent, und das ist schön“, sagt sie. Dieser Blick sei ganz anders als der, den sie auf der Straße spürt, wenn sie „so komisch“ angestarrt wird.

Schlosspark Köpenick. Als die Dreharbeiten für die Endszene des Workshops anfangen, wiederholt Kathi noch ihre Zeilen. „Ja, das stimmt“, „Geil“, „Das ist ja unglaublich“, sagt sie und schaukelt eine Puppe. Es fällt ihr schwer, sich längere Texte zu merken. In der Szene plaudert sie mit zwei anderen Müttern über ihre Kinder, währenddessen werden sie ausgeraubt. Ihre Rolle gefällt ihr.

Neben einer Giraffenskulptur proben die anderen Mütter – Schauspielerinnen ohne Behinderung. An einem inklusiven Workshop haben sie noch nie teilgenommen. „Warum begegnet man Menschen mit Behinderung im Alltag nicht so selbstverständlich wie hier?“, fragt eine. Am Anfang hatten sie Berührungsängste. „Man weiß erst mal nicht, wie man mit Kollegen mit Behinderung umgehen soll, bis man merkt: genau so wie mit jedem anderen“, meint die andere.

„Ohne das Bedürfnis, alles in Schubladen zu stecken, würde dieses Interview nicht stattfinden“

Max Edgar Freitag

Auch Max Edgar Freitag, der zweite Max in der Runde, sitzt im Park. Mit hochgezogener Kapuze beantwortet er Fragen für die Dokumentation des Workshops. „Normale Menschen“, er macht Gänsefüßchen mit den Fingern, „brauchen Floskeln, um das Eis zu brechen“, sagt er. „Hallo, wie geht’s?“, ahmt er nach. „Wir, Menschen mit Behinderung, mögen uns oder mögen uns nicht. Wir sind einfach da.“ Freitag redet schnell und schaut einem direkt in die Augen. „Um Schauspieler zu sein, muss man eine Macke haben. Normale Leute sind langweilig und nicht so interessant wie wir“, sagt er. Das Schönste an der Schauspielerei sei der Abend. „Die Soireen haben etwas Nostalgisches mit den Vorhängen, den Theaterlichtern und dem Applaus.“

Als Kind spielte er Theater in der Schule und kannte die Texte aller Mitspielenden auswendig. Da sagte die Lehrerin zu seiner Mutter, dass er Schauspieler werden sollte, und jetzt, mit 30, sei er sicher, sie hatte recht. „Die meisten Menschen mit Behinderung haben keinen Zugang zu einer professionellen Ausbildung an einer Schauspielschule“, sagt Janßen, der Initiator von Rollenfang. Für Freitag gab es aber nie ein Hindernis auf dem Weg zu seinem Traumberuf. Schauspielerei zu lernen sei wie Schwimmen lernen, sagt er und zieht seine Kapuze runter: „Du kannst Schwimmunterricht nehmen oder ins Wasser springen. Ich bin ins Wasser gesprungen, ohne Hose.“

Neben den Workshops für SchauspielerInnen arbeitet Rollenfang mit Agenturen und bietet Coachings, wenn in Filmproduktionen SchauspielerInnen mit Behinderung mitarbeiten. Eva Mattes, Angela Winkler und andere Prominente unterstützen die Initiative. Doch finanziell stehe sie auf keinen sicheren Füßen. Janßen will weiterhin Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit für Inklusion machen und feiert deshalb jeden Auftritt seiner SchauspielerInnen, wie den seines Patenkindes Max Dominik letzten September.

Da moderierte er die „Parieté“, die Gala des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes in Berlin mit. „Das macht Spaß, oder, Max?“, fragte die Co-Moderatorin. „Ja, das macht Spaß“, sagte er und zupfte sich den Anzug zurecht.

Transvestiten, Zauberer und andere Performer begleiten mit Regenschirmen die Gäste über den blauen Teppich vor dem Pfefferbergtheater in Berlin, wo die Gala stattfindet. „Wer wissen möchte, was Inklusion ist, ist heute Abend hier richtig“, wird am Anfang der Show versprochen. Ein Tänzer mit Krücken dreht seinen Körper in der Luft, „Ahs“ und „Ohs“ sind im Publikum zu hören. Manche schütteln den Kopf, „unglaublich“. Eine Tänzerin mit Downsyndrom macht einen Spagat.

„Du bist perfekt, so wie du bist“, wird im Lied, auf das sie tanzt, immer wieder gesungen. Später applaudiert das Publikum auch über Witze, die die gehörlosen Schauspieler in Gebärdensprache erzählen. Eine junge Zuschauerin, die sich draußen eine Zigarette dreht, sagt mit Tränenaugen: „Was die alles trotz Behinderung können, erinnert mich, wie privilegiert ich bin.“

Noch ein Szenenwechsel, dieses Mal an ein Filmset in Berlin-Zehlendorf: Max Dominik sitzt am Cateringwagen in einer Kopfsteinpflasterstraße und wartet, bis er seine Szenen für die ARD-Fernsehserie „Praxis mit Meerblick“ drehen darf. „Die langen Wartezeiten sind am schwierigsten“, sagt er. Es läuft Fußball, der Koch raucht, das Filmteam läuft rum mit Gürteltaschen, Karabinern und Gaffa Tape, als wäre der ganze Villenblock ein Filmset. „Ich liebe es hier“, sagt Dominik.

Über der linken Augenbraue hat er ein Pflaster. „Ist nur Schminke.“ Doch er würde „in echt gerne weinen, weil alles so schön ist“. In der ARD-Produktion spielt Dominik den kleinen Bruder mit Behinderung einer der ProtagonistInnen. In „Tod einer Schülerin“ (2010) spielte er die gleiche Rolle. Der kleine Bruder zu sein, mache ihm Spaß, er träume jedoch davon, andere Rollen zu bekommen. „Ich würde gern der Böse sein oder mal so einen Schizophrenen spielen“, sagt er.

Oft übernehmen SchauspielerInnen ohne Behinderung Rollen mit Behinderung, sagt Janßen. „Nur beim Downsyndrom geht das nicht, denn die Eigenschaften sind schwer nachzumachen.“ Das größte Ziel von Rollenfang sei, „dass die künstlerische Leistung und nicht die Behinderung der SchauspielerInnen im Vordergrund steht“.

Zurück in Köpenick: Kathi Bromka spaziert durch den Garten des Tagungshauses, riecht an Blumen und erzählt von ihrem Wunsch, in einer Neuverfilmung von „Amadeus“ die Hauptrolle zu spielen. Sie würde eine Perücke tragen und Sätze wie „Treten Sie ein“, „Was wollen Sie denn?“ mit hoher Stimme vortragen. Max Edgard Freitag hingegen würde gern eine weibliche Figur spielen. Ob mit oder ohne Behinderung. Er wünscht sich, dass nur zwischen guten und schlechten SchauspielerInnen unterschieden würde, egal ob mit Behinderung oder ohne. „Aber wenn Menschen nicht das Bedürfnis hätten, immer alles in Schubladen zu stecken“, er macht ein Viereck mit seinen Händen, „würde auch dieses Interview gar nicht stattfinden“.

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