piwik no script img

Die Psychopathologie der Macht

In seiner „Melrose“-Trilogie verübte Edward St. Aubyn süße Rache an seiner Klasse, dem Hochadel. In seinem aktuellen Roman „Dunbar und seine Töchter“ variiert er Shakespeare

Gute Töchter, böse Töchter. Weibliche Angestellte in London Foto: Loop Images/laif

Von Klaus Bittermann

Niemand beherrscht in der Welt der Literatur die Form des herablassenden Sarkasmus und der ans Pathologische grenzenden Arroganz der Upper Class besser als Edward St. Aubyn. Er kennt diesen Stil, denn er ist in einer prominenten Familie des englischen Hochadels aufgewachsen. Für ihn war es die Hölle, weil ihn sein Vater sexuell missbrauchte. Er besuchte die Westminster School, eine sogenannte Knabenschule, und diese antiquierte Bezeichnung lässt bereits erahnen, welcher Terror des Mobbings und welch seltsame Riten der Demütigung da geherrscht haben, weshalb Edward St. Aubyn schon als Schüler drogenabhängig wurde.

St. Aubyn hat diese Atmosphäre täglich eingeatmet, und er hätte am liebsten Selbstmord begangen. Er kam noch einmal davon, und er hat es geschafft, von den Drogen loszukommen. Das Schreiben war für ihn eine notwendige Therapie und hielt ihn vermutlich sogar am Leben, mehr jedenfalls als die meisten Schriftsteller, bei denen häufig Koketterie mitschwingt, wenn sie behaupten, das Schreiben sei für sie überlebensnotwendig.

St. Aubyn nahm mit seiner autobiografisch durchwebten „Melrose“-Trilogie den Hochadel aufs Korn, den er so auftreten ließ, wie er wahrscheinlich tatsächlich ist, in seiner ganzen Dummheit und Niedertracht, Vertrotteltheit und Ignoranz, und gerade in der Beschreibung dieser Spezies ist St. Aubyn zur stilistischen Hochform aufgelaufen. Er hat auf geniale Weise Verrat an der Klasse verübt, der er entstammt, er hat sie auf eine Weise lächerlich gemacht, dass das Vergnügen daran so groß ist wie sonst nur an einem Drei-Sterne-Menü.

In seinem neuen Buch „Dunbar und seine Töchter“ hat St. Aubyn Shakespeares „König Lear“ neu bearbeitet. Der ins Alter gekommene Medienzar Henry Dunbar hat bei der Regelung seiner Nachfolge seine innig geliebte Tochter Florence aus Gründen verletzten Stolzes und seinen engsten und ihm treu ergebenen Berater verstoßen, um sein Imperium seinen beiden anderen Töchtern, Abigail und Megan, zu vermachen. Die sind aber die Bösen, und sie nutzen die erste Gelegenheit, um ihn nach einem Schwächeanfall in einem Sanatorium medikamentös ruhigzustellen und abzumelden, um möglichst schnell möglichst viel aus dem Unternehmen herauszuschlagen. In der Anstalt, wo der Machtmensch Dunbar plötzlich konfrontiert wird mit seiner Machtlosigkeit, dämmert ihm, dass der letzte entscheidende Schritt bei der Übergabe der Geschäfte falsch war.

Edward St. Aubyn: „Dunbar und seine Töchter“. Aus dem Englischen von Nikolaus Hansen. Knaus Verlag, München 2017, 253 Seiten

Zusammen mit einem Patienten, dem Fernsehkomiker und Alkoholiker Peter Walker, flieht er aus dem Sanatorium und bringt dadurch den Stein ins Rollen, ein Drama mit Shakespear’schen Ausmaßen. Alle begeben sich sofort auf die Suche, weil es entscheidend ist, wer zuerst seiner habhaft werden kann. Davon hängt ab, ob das von Dunbar aufgebaute Multiunternehmen erhalten bleibt oder aufgeteilt wird. Aber das ist nur das Hintergrundrauschen für die Motive der handelnden Personen, um die Geschichte voranzutreiben.

Die Protagonisten sind in gewisser Weise eindimensional, oszillierende Charaktere gibt es nicht, ebenso wenig ein Zwischenreich der Uneindeutigkeit. Es sind Getriebene, die ihre Rolle bis zum Ende spielen, und selbst der Opportunist bleibt sich selbst treu und wechselt zur jeweils vielversprechenderen Seite, das heißt entweder zu den Guten oder zu den Bösen, ohne sein Wesen ändern zu müssen.

Wenn also St. Aubyn kapitelweise wechselnd mit inneren Monologen offenlegt, wie die einen oder die anderen ticken, dann stellt man schnell fest, dass wie in jedem Western oder Abenteuerfilm die Guten ein bisschen fade wirken, fast schon selbstgenügsam, während man beim bösen Geschwisterpaar in Abgründe blickt, die sofort die Spannung erhöhen. Die beiden sind in ihrer Bosheit und ihrem Hass um einiges brillanter und unterhaltsamer als die grundanständige Florence, die selbstlos ihrem Vater helfen will und an seinem Unternehmen gar nicht interessiert ist, die glücklich verheiratet ist, Kinder hat und der es auch sonst an nichts fehlt.

Edward St. Aubyn beschreibt nicht das Grauen, sondern die menschliche Komödie,in der trotz aller Tragik das Absurde zum Vorschein kommt

Wenn die sexbesessene Megan hingegen träumt, dass sie das Sanatorium am liebsten „von der Erdoberfläche tilgen würde“, „fände sie die Zeit dafür“, und wenn sie sich darüber empört, dass die Verantwortlichen „den Eindruck schuldig geblieben waren, dass der Marianengraben zu flach zur Aufnahme ihrer Schande sei“ und man doch eigentlich erwarten dürfte, „dass sie nach Dunbars Auffinden als kleinen Beitrag zur Wiedergutmachung sich selbstverständlich das Leben nehmen würden“, dann will man von dieser eleganten Bösartigkeit einfach mehr. „Natürlich waren sie beide scharf auf die Nachfolge von Daddy, aber wenn es keinen Spaß machte, wozu dann das Ganze?“

Megan entpuppt sich als Psychopathin, die vor keinem Mittel zurückschreckt, nicht nur, weil sie sich durch ihre Machtposition geschützt glaubt, sondern weil sie bei jeder neuen Grenzüberschreitung immer wieder neu den Kitzel des Verbotenen spüren will, wie ein kleines Kind, das jedes Mal neu testet, wie weit es gehen kann. Im Unterschied aber zum Kind ist ihre Habgier, die vor nichts zurückschreckt, nicht niedlich, sondern zutiefst asozial.

Jeder Leser ist fasziniert vom Verbrechen der außerhalb des Rechts stehenden Macht, von Intrige und Niedertracht. Bei St. Aubyn wird man in diesem Genre unvergleichlich gut bedient, weil er diesem Milieu entstammt. Er gestattet einem tiefe Einblicke in die Psyche, ohne die Sicht nur auf das Monströse und Spektakuläre zu beschränken. Er beschreibt nicht das Grauen, sondern die menschliche Komödie, in der trotz aller Tragik das Absurde und das vergebliche Streben zum Vorschein kommt, und damit hat er Shakespeare und dieser Komödie einen glänzenden Auftritt verschafft.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen