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Emanzipatorisch und nationalistisch

Schauspieler aus mehreren Ländern spüren in „Malalai – die afghanische Jungfrau von Orléans“ der politischen Funktion weiblicher Freiheitsikonen und Gotteskriegerinnen nach und verbinden dabei afghanischen Mythos, französische Legende und Schillers Drama

Die Großkritiker waren von der ersten Vorführung begeistert

Von Helmut Höge

Im nationalen, antikolonialen Befreiungskampf der Afghanen gegen die Engländer im Zweiten Anglo-Afghanischen Krieg von 1878 bis 1880 wurde Malalai, eine Frau aus dem Volk, posthum zur Nationalheldin. Malalai war eine Krankenschwester bei den Aufständischen. Als die Kämpfer verzagten, soll sie die Initiative ergriffen haben: Sie löste ihren Schleier, machte daraus eine Fahne und stürmte auf den Feind los. Dabei starb sie, aber die Afghanen siegten. An dieser Legende wird bis heute angeknüpft: So heißt etwa die jüngste afghanische Parlamentarierin Malalai Joya und die pakistanische Feministin und Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafza.

Die Realgeschichte der französischen Nationalheldin Jeanne d’Arc entwickelte sich ähnlich: Sie war eine Ziegenhirtin, die während des Hundertjährigen Kriegs in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts den Truppen des Dauphin, des Thronerben, gegen die Engländer zum Sieg verholfen haben soll. Sie selbst wurde jedoch von den Engländern gefangengenommen und dann von dem England-freundlichen Bischof Cauchon als Ketzerin verurteilt. Im Jahr 1431 verbrannte man sie auf dem Marktplatz von Rouen, 1909 wurde sie jedoch als jungfräuliche Märtyrerin heiliggesprochen.

In Schillers „Jungfrau von Orléans“, das 1801 in Leipzig uraufgeführt wurde und eines seiner am häufigsten gespielten Stücke war, wird die Geschichte nacherzählt, aber Jeanne d’Arc ist da quasi schon heilig. Denn Gott selbst gab ihr den Auftrag, Frankreich zu einen, das in drei Warlord-Territorien zerfallen war und von England bedroht wurde, wobei sich zu allem Überfluss auch noch die Mutter des Dauphin – der spätere König Karl VII. – auf die Seite der Gegner ihres Sohnes schlug.

Obwohl ihr eigener Vater Johanna zurückhalten wollte und ihr mangelnde christliche Demut vorwarf, bewaffnete sie sich und ritt gottbefohlen in den Krieg gegen die Engländer. Sie ist nahezu unverwundbar, solange sie sich in keinen Mann verliebt, und hat zudem seherische Fähigkeiten – auf das englische Heer wirkt ihre „schwarze Magie“ desorganisierend. Als sie jedoch deren Anführer, den „schwarzen Ritter“ Lionel, im Kampf besiegt und ihm den Gesichtsschutz entreißt, verliebt sie sich prompt in ihn – statt ihm den Gnadenstoß zu geben. Dadurch gewinnen die Engländer zunächst wieder Oberhand. Aber Johanna bekommt neue Weisungen von Gott und die Franzosen siegen dann doch, wobei sie jedoch auf dem Schlachtfeld bleibt. In der Schlussszene wird die tote Johanna mit Fahnen zugedeckt, welche die Umstehenden auf sie legen.

Das vom afghanischen Azdar Theatre mitproduzierte Stück „Malalai“ von Robert Schuster und Julie Paucker macht in der Akademie der Künste nun aus diesen drei Geschichten eine – und das auch noch transnational: So sprechen die Schauspieler aus Frankreich, Afghanistan, Deutschland und Israel auf der Bühne Englisch, Deutsch, Französisch, Afghanisch und Hebräisch. Die fremdsprachlichen Texte werden auf einer Laufschrift über der Bühne übersetzt. Bei den Kampfszenen fallen die Schauspieler gelegentlich aus der Rolle ins eigene Schauspielerleben: „So spielt man Sterben in deutschen Theatern!“, sagen sie. An anderer Stelle ist seltsamerweise auch noch vom „Holocaust“ die Rede. Das Bühnenbild ist dagegen minimalistisch: Es besteht nur aus acht Metallparavents auf Rädern.

Im Programmheft wird das Stück auf zwei Geschichten reduziert. Dort heißt es: „Sowohl der afghanische Mythos als auch die französische Legende hatten und haben eine nationenbildende, aber auch eine emanzipatorische Funktion, und beide werden – gerade in jüngerer Zeit – von nationalistischen und religiös-fundamentalistischen Kräften instrumentalisiert. Diese mythische und politische Aufladung dieser weiblichen Freiheitsikonen und Gotteskriegerinnen bildet den Ausgangspunkt von ‚Malalai – die afghanische Jungfrau von Orléans‘“.

Das afghanische Ensemble Azdar Theatre war schon früher nach Deutschland eingeladen worden, hatte aber keine Einreisegenehmigung bekommen, weshalb das Stück erst im Sommer 2017 im Rahmen des Kunstfests Weimar, das der Auseinandersetzung mit der russischen Revolution von vor 100 Jahren gewidmet war, aufgeführt werden konnte. In Kabul hatte sich 2014 während einer Aufführung des Azdar-Theaters ein Selbstmordattentäter der Taliban in die Luft gesprengt, seitdem kann das Ensemble in Afghanistan nicht mehr spielen und ist auf Einladungen in andere Länder angewiesen. Dessen ungeachtet endet ihr Stück über Afghanistan und „Malalai“ hoffnungsfroh – irgendwann werde das Gemetzel im Land enden. Doch der Schlusssatz ist dann etwas missverständlich geraten: „Die Frauen, die sich heute selbst verbrennen, sind keine Opfer – sondern Vorhut.“

Die Großkritiker waren jedoch alles in allem von der Aufführung im Rahmen des Kunstfests Weimar begeistert: „Allein diese verblüffend passgenaue Überblendung“, lobte die Süddeutsche Zeitung, während Die Zeit schrieb: „Die Zuschauer sahen ein hochspannendes Theaterprojekt.“ Ich hatte eine afghanische Version der „romantischen Tragödie“ aus dem Kanon der Weimarer Klassik erwartet, weil sie „nach Schiller“ hieß – und störte mich etwas an der Multinationalität und -lingualität, weil ich mit dem Lesen der Laufschrift nicht nachkam und es auf und über der Bühne immer wieder unverständlich für mich wurde. Es ging dabei auch nicht um eine Revolution, sondern um einen nationalen, antikolonialen Befreiungskampf. Und genau genommen ist das eine ja das Gegenteil vom anderen: Internationalismus versus Nationalismen. Letztere bestimmen seit der Auflösung der Sowjetunion wieder mehr und mehr den Zeitgeist.

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