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„Wir sollten nicht darauf warten, bis etwas kaputt ist“

Kann Kunst in schweren Krisen helfen? Diese Frage beschäftigt Ola Mafaalani. Am Berliner Ensemble inszeniert sie ein Stück nach Marcel Carnés Film „Les enfants du paradis“, der im von Deutschen besetzten Paris entstand

Interview Tom Mustroph

Die Regisseurin Ola Mafaalani inszeniert am Berliner Ensemble ein Stück nach dem berühmten Film „Die Kinder des Olymp“ (französischer Titel: „Les enfants du paradis“) von Marcel Carné. Dabei geht es auch um dessen Entstehungsgeschichte im Paris der 40er Jahre, das von der deutschen Wehrmacht besetzt war. Ola Mafaalani, geboren in Syrien, ist in Bochum aufgewachsen und wurde in den Niederlanden als Regisseurin und Intendantin geprägt. Bei ihrer ersten Arbeit für das Berliner Ensemble entfaltet sie ein Bildpanorama um Erinnerungen, das Ringen um Wahrheit und die Kreativität, die der Angst ein Schnippchen schlagen kann.

taz: Ola Mafaalani, am kommenden Samstag hat Ihr Stück „Kinder des Paradies“ im Berliner Ensemble Premiere. Warum wählen Sie ausgerechnet jetzt einen Stoff, der im 19. Jahrhundert spielt und im auch schon recht fernen 20. Jahrhundert als Film umgesetzt wurde?

Ola Mafaalani: Ich mache Theater nicht wie ein Museumsstück, sondern will mit einer Geschichte arbeiten, die mich berührt hat, hier und heute. Diese Geschichte hat sich in Frankreich abgespielt. Ich lasse sie da, wo sie ist, und aktualisiere sie nicht. Aber sie ist universell.

Und sie ist spektakulär, weil es um Menschen geht, die in einer Notsituation auf die verrückte Idee verfallen, Kunst zu produzieren und dabei auch noch ihr eigenes Leben und das manch anderer retten. Was machte für Sie den größten Reiz aus?

Die ganze Situation ist komplex. Es ist die Zeit des Zweiten Weltkriegs, und die Hauptdarstellerin Arletty hat eine Liebesaffäre mit einem deutschen Offizier. Sie steht zu ihrer Liebe, sagt: Mein Arsch gehört nicht Frankreich, sondern mir. Einer der Schauspielkollegen ist ein Judenhasser, der jeden Morgen, bevor er zur Probe kommt, in seinem Radioprogramm die schrecklichsten Witze macht. Aber er verrät niemanden aus der Crew, obwohl er weiß, dass der Komponist und der Bühnenbildner und viele Schauspieler und Techniker entweder Juden waren oder in der Widerstandsbewegung gearbeitet haben.

Aber das waren längst nicht alle Probleme?

Die Produktionsbedingungen war sehr schwierig. Sie hatten kein Geld für Kostüme und haben daher Sohlen aus Holz gemacht. Sie hatten keine Elektrizität – und was für ein Licht gibt es im Film! Alle Kulturen, die einander hassten, haben teilgenommen an diesem Film. Sie haben zusammengearbeitet. Das Filmprojekt war eine Einladung, mit Kreativität etwas Großes zu schaffen. Wir vergessen so schnell, was wir können. Und es ist schade, dass wir uns erst daran erinnern, wenn Krieg ist. Wir sollten nicht darauf warten, bis etwas kaputt ist. Nein, wir sollen jetzt kräftig und kreativ sein – im eigenen Interesse, weil das Leben dann cooler wird.

Die Situation der Crew um den Regisseur Marcel Carné und die Hauptdarstellerin Arletty provoziert auch die naheliegende Frage, ob man in Zeiten von Besetzung, Okkupation und Krieg eher bleiben oder besser gehen sollte. Was ist Ihre Empfehlung, angesichts Ihrer Beschäftigung mit dem Stoff und auch mit einem Seitenblick auf die Lage in Ihrem Geburtsland Syrien?

Die Regisseurin: Ola Mafaalani,1968 geboren, zog im Alter von zwei Jahren mit ihrer Familie von Syrien nach Bremen, wo sie später auch Film und Fernsehen studierte, ebenso Anglistik, Politikwissenschaft und Germanistik. Sie führte ihr Studium in Amsterdam fort und lebt seit 1992 in den Niederlanden.

Das Stück: „Kinder des Paradieses“ im Berliner Ensemble. 17. und 18. Januar 19.30 Uhr Voraufführungen; Premiere 20. Januar, wieder am 21. und 24. Januar, jeweils 19.30 Uhr

Das beschäftigt uns sehr. Carné, der Regisseur, hatte tausend Möglichkeiten, zu gehen. Der Komponist Joseph Kosma war Jude, und ist auch nicht gegangen, obwohl er ebenfalls die Chance dazu hatte. Man hatte Carné gewarnt, „wenn du bleibst, wirst du mitmachen müssen, denn sonst wirst du nicht überleben. Also renne, wenn du nicht werden willst wie sie.“ Und er sagte: „Jetzt fängt es an, interessant zu werden.“ Er hat mit dem Film zahlreiche Menschenleben gerettet. Aus dem Exil heraus hätte er das nicht tun können.

Von Paris 1943 nach Damaskus heute: Besser bleiben? Besser gehen?

Ich weiß nur: Ich weiß es nicht. Mona Wasif, die bekannteste Schauspielerin aus Syrien, die im ganzen arabischen Raum ein Star ist, wohnt in Damaskus. Sie hat alle Möglichkeiten wegzugehen. Sie wurde sogar attackiert. Es wurde die Meldung veröffentlicht, dass sie gestorben sei. Das ist schrecklich, so etwas zu lesen. Das haben sie mit damals Arletty auch gemacht, um sie kaputtzukriegen. Aus den Medien deine eigene Todesnachricht zu erfahren, das ist ein deutliches Zeichen: Halt deinen Mund! Und Mona Wasif sagte: „Natürlich weiß ich, dass ich überlebe, wenn ich weggehe. Aber was passiert dann mit den Leuten hier? Die halten sich doch daran fest, dass ich noch da bin.“ Und das fand ich so schön, dass sie sich damit beschäftigt. Sie ist jetzt 75, ungefähr wie Frau Ritter jetzt ist, die unsere Arletty spielt (Ilse Ritter ist Jahrgang 1944, Mona Wasif Jahrgang 1942). Sie hat mit 17 ihre Karriere begonnen, nun sagt sie der Bevölkerung: „Mit euch und durch euch bin ich zu einer großen Schauspielerin geworden, ich kann nicht einfach weg.“ Man wird, glaube ich, nicht Künstler, wenn man denkt: Wie komme ich jetzt am besten raus? Ein Künstler probiert, aus allem, aus jedem Elend etwas Schönes zu kreieren.

Exil ist also falsch für Künstler?

Nein. Gerade die Leute, die im Exil waren, haben mitgeholfen, Frankreich von den Deutschen zu befreien! Darum ist es so schwer, eine Antwort zu finden.

In Osteuropa hat man oft diskutiert, dass ein einflussreicher Intellektueller oder Künstler dem System als Feigenblatt dient, als Zeichen, dass Freigeister noch Raum haben. Was bedeutet das für Ihren Stoff?

Das ist mit Carné doch auch passiert. Seine Filme waren ja auch ein Zeichen, man kann im besetzten Paris noch Filme machen. Aber er hat sich auch Tricks ausgedacht. Es fing damit an, dass kein Film länger als anderthalb Stunden dauern durfte. Da machte er einfach zwei Filme. Und so ging es immer weiter. Die jungen Männer, die einen Vertrag hatten, mussten nicht an die Front. Er machte Szenen, für die er ganz viele Männer brauchte, deren Leben er damit gerettet hat. Das ist Kreativität in den schrecklichsten Zeiten.

Man hatte Marcel Carné gewarnt: Wenn du bleibst, wirst du mitmachen müssen

Der Film dauert drei Stunden. Wie lang wird die Theaterfassung, die ja auch die Produktionsbedingungen miterzählt?

Ebenfalls drei Stunden. Kürzer geht nicht, und länger wollte ich nicht. Ich sage mir, wenn Carné das in drei Stunden erzählt, muss mir das auch gelingen. Der erste Teil ist der Film, im zweiten Teil schiebt sich die Situation herein. Wir agieren, als würde Arletty noch leben und sich erinnern.

Wie geht das?

Man sieht die Originalszenen, aber aus ihrer Wahrnehmung. Und sie erinnert sich, wie das gedreht wurde. Sie kann auch unterbrechen, reingehen, übernehmen und wieder weggehen. Sie kann sich selbst als junge Frau sehen. Dieser Effekt ist unglaublich.

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