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Ungehemmtim Angriffsmodus

Bei der EM in Dresden gewinnt die deutsche Shorttrackerin Anna Seidelüber 1.000 Meter Bronze. Im Team wird eine neue Mentalität beschworen

Aus Dresden Markus Völker

Christoph Schubert hatte einen Traum. Er wäre gern in der Gangneung Ice Arena gelaufen. Dort kämpfen die Shorttracker im Februar um olympische Medaillen. 12.000 Leute passen ins Stadion, das wie eine große Computermaus aussieht. Sie werden einen Heidenrabatz veranstalten, denn die spektakulären Massenstartrennen auf einem 111-Meter-Oval begeistern selbst die etwas sportmüden Südkoreaner, die vor allem die Lokalmatadorin Shim Su Hee, geboren in Gang­neung, anfeuern werden.

Im Shorttrack sind die Asiaten eine Macht, was man von den Deutschen wahrlich nicht sagen kann. Christoph Schubert ist schon froh, wenn er sich im Windschatten der europäischen Spitzenläufer halten kann. Ganz vorn skaten Niederländer wie der eher kleine, schnellkräftige Sjinkie Knegt oder der Russe Wiktor Ahn, der früher einmal Südkoreaner war und Ahn Hyun Soo hieß. Schubert wollte sich an diesem Wochenende bei der Europameisterschaft in Dresden für die Olympischen Winterspiele qualifizieren. Er hätte dafür in ein A-Finale einziehen müssen, aber es sollte nicht sein. Über 1.500 Meter schlidderte Schubert sogar in die Bande. „Ich habe am Ende ein bisschen Mist gebaut“, sagte er, „aber ich bin zufrieden, denn ich bin trotz allem extrem stark gelaufen, aggressiv, und die Gegner hatte ich immer im Blick.“

Auch über 500 Meter musste der 23-Jährige die Topleute ziehen lassen, freute sich aber erneut – diesmal über eine persönliche Bestzeit auf der Sprintdistanz: 41,89 Sekunden. Sjinkie Knegt war fast anderthalb Sekunden schneller. Sie müssen sich offensichtlich bescheidene Ziele setzen, die deutschen Kurvenläufer, auch wenn zwei Athletinnen der Deutschen Eisschnelllauf-Gemeinschaft (DESG) nach Pyeonchang fliegen dürfen: Anna Seidel, 19, und Bianca Walter, 27. Aber auch sie werden sich in Südkorea damit begnügen müssen, eine Statistenrolle im Bühnenstück der Kurvenflitzer zu übernehmen. In Dresden spielten beide zunächst eine unglückliche Rolle.

Über 1.500 Meter wurde Walter ein Opfer der Fliehkräfte, und Seidel wurde auf der gleichen Strecke so hart von einer ungarischen Skaterin bedrängt, dass die Red-Bull-Elevin nicht mal ins B-Finale kam. „Stinkwütend“, sei sie gewesen, verriet sie danach, „richtig abgefuckt, wie man in unserer Sprache sagt“, und nahm sodann ein Schluck Bonbonwasser aus der Aufputsch-Dose. So ist Shorttrack nun mal, extrem kompetitiv. Wer sich im Pulk nicht durchsetzen und am Rand der Legalität dahinsurfen kann, der darf dann eben nur seinen Missmut protokollieren.

Sie sei ein wenig aus der Übung gekommen, „was das Taktische angeht“, bekannte Seidel. Doch am Sonntag zeigte sie, wie schnell sie ihre Lektion gelernt hatte. Über die von ihr sowieso favorisierte 1.000 Meter-Distanz ersprintete sie sich die Bronzemedaille. Ein lang ersehntes Erfolgserlebnis. „Im letzten Winter war ich ja komplett raus“, berichtete sie. 2016 hatte sich Seidel nach einem Sturz auf der Eisbahn einen Bruch des 12. Brustwirbels und Bänderrisse am kaputten Wirbel zugezogen. Die Verletzung musste mit Schrauben und Stahlplatten stabilisiert werden. Seidel sagt, sie sei wieder voll im Angriffsmodus, auf den sie in den vergangenen sechs Monaten im niederländischen Utrecht umgeschaltet hat. Dort, bei der Trainerin Wilma Boomstra, trainierten ein paar deutsche Schlittschuh-Exilanten, neben Seidel auch Walter und Schubert. Bundestrainer Miroslav Boyadzhiev hatte im Sommer den Dienst quittiert, und die DESG suchte vor Olympia nach einer Notlösung, die das Trio schließlich in einen Bungalow auf einen Zeltplatz nahe Utrecht führte.

Die deutschen Short­tracker schwärmen von der Trainingszeit in Holland

Sie sprechen mit leuchtenden Augen von dieser Zeit. Christoph Schubert schwärmt vom „anderen Feeling“. Die Holländer seien „nicht so versteift im Kopf“, und das Training habe einen ganz anderen Zug gehabt: „Ich habe in den sechs Monaten noch nie so viele Stürze gesehen und auch noch nie so eine Mentalität.“ Wenn man hinfällt, stehe man halt wieder auf, und es gehe ohne Lamento weiter. „Ich bin früher gehemmt gelaufen, jetzt ist es mir egal, ob ein Charles Hamelin (kanadischer Topläufer) oder ein Wiktor Ahn neben mir steht.“ Nach dem Holland-Trip habe er zu sich gesagt: „Mensch Schubi, du kannst doch was!“

Die Deutschen konnten also, was in der Enge des Leistungssports so wichtig ist, ihren Horizont erweitern, in der nahen Ferne reifen. Am liebsten würden sie nach dem Ende des Experiments mit Wilma Boomstra als Bundestrainerin weiterarbeiten. Die DESG ist laut Sportdirektor Robert Bartko in Verhandlungen. Es ist wohl eine Frage des Geldes, ob sie nach Dresden an den Stützpunkt kommt.

Christoph Schubert fände diese Lösung gut, noch lieber wäre er natürlich auf dem Eis von Gangneung um die Kurven gezischt. Er mag Südkorea. Er hatte dort einen Freund, den mehrmaligen Shorttrackweltmeister Noh Jin Kyu. Sie haben sich bei etlichen Weltcups getroffen und blind verstanden. Doch er hätte seinen Kumpel, der gleichzeitig sein großes Vorbild war, weil auch „so ein verrückter Hund“, in Pyeongchang ohnehin nicht mehr treffen können. Noh ist im April 2016 an Knochenkrebs gestorben. Mit 23 Jahren.

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