: Nur bedingt belebend
Anne Teresa de Keersmaekers und ihre Kompagnie Rosas werden in Berlin hochgehandelt. Ihre aktuelle Choreografie „Mitten wir im Leben sind“ zu Bachs Cellosuiten ist vor allem ein didaktischer Balance-Akt
Von Astrid Kaminski
Auch wer Bachs Cellosuiten noch nie live erlebte, hat sie im Ohr. Sie werden gerne als eine Art bildungsbürgerliche Konsummusik gebraucht. Beim sonntäglichen Brunch im Café, in gut sortierten Buchläden, in Concept Stores als Abwechslung zu Electronic. Mit ihren treibenden Rhythmen, dem abstrakt-tänzerischem Gestus, ihren Wiederholungen, ihren Orgelpunkten sind die Suiten eingängig ohne zu Ohrwürmern zu werden. Dass sie Produkte höchster, nahezu unmöglicher Virtuosität sind, dringt dabei wenig ins Bewusstsein. Auch eine Unterscheidbarkeit der sechs einzelnen Suiten oder gar der einzelnen Tänze innerhalb einer Nummer ist Musikkenner*innen vorbehalten.
Dieser Art von Indifferenz etwas entgegenzusetzen und jeder Suite einen eigenen Charakter zu geben, hat sich Anne Teresa de Keersmaeker vorgenommen. Sie ist eine der derzeit bekanntesten Choreograf*innen und in Berlin dadurch, dass sie sowohl am HAU Hebbel am Ufer als auch von der Volksbühne vermehrt präsentiert wird, durchaus ein Politikum. Zur Eröffnung der Volksbühnen-Spielstätte Tempelhof tanzte sie (ausnahmsweise lächelnd) ihre „Partita 2“ auf Asphalt, die aktuellen Cellosuiten unter dem Luther-Titel „Mitten wir im Leben sind“ werden am HAU gespielt, und für September 2018 plant die Volksbühne unter Chris Dercon (der sich die Suiten nicht entgehen ließ) ein Großprojekt von de Keersmaeker und ihrer flämischen Kompagnie Rosas zu den Brandenburgischen Konzerten. Wie viel Rosas soll sich Berlin leisten?, lautet die knausrige Frage im Hintergrund. De Keersmaekers Kunst ist teuer, viele andere Choreograf*innen können in Berlin nicht präsentiert werden, weil Geld und Spielstätten fehlen. Sind die Rosas also tatsächlich ein absolutes Must?
Marktwirtschaftlich betrachtet: Die Rosas ja, die getanzten Cellosuiten nicht. Dazu ist ihr ästhetischer Mehrwert zu gering. Die abstrakte Formarchitektur, die komplexe Musik auf minimale Prinzipien (wie Dur und Moll, Bass- und Melodiestimme) reduziert, das auf dem Boden aufgemalte, stilisierte Geometrie-Einmaleins, die Wechsel zwischen Hören und Bewegen, Aktivem und Kontemplativen, sind aus anderen Choreografien de Keersmaekers bekannt.
Trotzdem hat „Mitten im Leben wir sind“ einiges zu bieten. Zunächst den Titel: Dieser Anfangsvers eines erlösungsflehenden Lieds in Luther-Übersetzung steht auf Pina Bauschs Grabstein – ein ehrerbietiges Memorandum also. Dann den Cellisten: Jean-Guihen Queyras gehört zur Weltklasse der jüngeren Suiten-Interpret*innen, und, selbst wer eher einen kräftigeren Strich und eine stärkere Phrasierung mag, muss ihn bewundern, wie er luftig und klar über die Seiten jagt und dabei den Umraum stets im Bewusstsein hat. Dann auch die Tänzer*innen: Die Suiten zwei, drei und vier werden so individuell wie schlank und wendig getanzt, mit in großer Exaktheit ausgearbeiteten kleinen Einfällen. Und zuletzt: Die Suiten sind eine Summe dessen, was mit de Keersmaekers musikalisch-reduktionistischem Ansatz möglich ist und was nicht.
Mehr als die Charakterisierung der einzelnen Suiten wird dabei eine Art Querstrukturierung deutlich, anhand derer die einzelnen Tanzsätze wiedererkennbar werden. So wird im Präludium das Material eingeführt; die gediegenere Allemande ist jeweils ein Duo zwischen Tanz-Solist*in und Meisterin (de Keersmaeker), wobei letztere das Material vorgibt (was, besonders in den drei obligatorischen Häschenhüpfern, teils sperrig wirkt); die Courante übergibt sich ganz dem Puls und bekommt Scherzo-Züge; die langsame Sarabande wird als Ausruhsatz für die Tänzer*innen inszeniert; der fünfte Satz, entweder Bourrée oder Gavotte, ist der experimentellste; und die abschließende Gigue bekommt einen buckligen Galopp und windschief gebogene Sprünge.
Dabei wiegt das Interpretatorische das Didaktische dieser Stilisierungen zwar meist auf, im Gesamten ergeben sich auf der kahlen, indirekt angeleuchteten Bühne zwar parallel zur Klangfarbe Bewegungsfarben, aber keine Lesart, die es mit der Musik aufnehmen könnte. Am deutlichsten wird das in der gekappten fünften Suite, aus der nur Präludium und Sarabande gespielt werden.
Sie steht in c-Moll, damit der dunkelsten Tonart innerhalb des Kontextes. Prompt wird es dann auch besonders dunkel im Raum und das Prinzip der Ruhepause während der Sarabande verabsolutiert sich, indem der Cellist nun ganz alleine bleibt. In einem anderen Sinn evident geht es in der sechsten Suite zu. Sie ist für ein fünfseitiges Instrument geschrieben, wird aber auf vier Seiten gespielt. Hier tanzt nun das ganze Quintett, wobei de Keersmaeker selbst zu einer Art unbenutzter Seite wird. Insofern ist „Mitten wir im Leben sind“ eine assoziative Summe entstehungs- und musiktheoretischer Referenzen. Respektvoll, aber nur bedingt belebend.
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