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Hoffen auf ein langes Wochenende zu zweit

Marzahn-Hellersdorf ist der Bezirk der Alleinerziehenden. Ralph Lippmann ist einer von ihnen. Er kämpft gegen Vorurteile, gegen das Bedürfnis von Eltern ohne Partner, sich abzuschotten – und für Tochter Judy

Von Susanne Messmer

August 2017

Tag der offenen Tür im SOS Familienzentrum Marzahn. Ralph Lippmann, Anfang vierzig und ganz in Schwarz gekleidet, steht hinter einem Infostand, lächelt freundlich und wartet. Vor ihm liegen Broschüren des Verbands alleinerziehender Mütter und Väter, für den er an diesem Ort einmal im Monat Treffen für Alleinerziehende organisiert – im Sommer am liebsten Grillnachmittage. Aber heute sucht niemand das Gespräch mit ihm.

An der kleinen Hüpfburg gegenüber geht eine Mutter in die Hocke, streift ihrer Dreijährigen die Ledersandalen ab. Sie bittet ihre Tochter freundlich um ein wenig Geduld in der Warteschlange.

Gestresste Alleinerziehende, meist weiblich und jung, wie man sie hier im nördlichsten Zipfel von Hellersdorf vielleicht erwartet – sie bleiben an diesem warmen Sommertag aus. Ralph Lippmann zuckt mit den Schultern: „Wir wissen einfach nicht, wie wir die Leute aus ihren Wohnzimmern rausbekommen sollen. Viele haben sich eingeigelt.“ Er kennt die Zahlen: In Marzahn-Hellersdorf liegt der Anteil Alleinerziehender bei 37 Prozent, berlinweit sind es 31, deutschlandweit 20. Neun von zehn Alleinerziehenden sind Frauen. Etwa ein Drittel der Alleinerziehenden in Deutschland sind von Armut bedroht, die Armutsgefährdungsquote der gesamten Bevölkerung liegt dagegen bei 16,7 Prozent.

Ralph Lippmann ist selbst alleinerziehender Vater. Mit seiner Tochter Judy lebt er in einer Dreizimmerwohnung in Marzahn – und wie er an diesem und zwei weiteren Terminen in den folgenden Monaten zum besseren Kennenlernen durchblicken lässt, spürt auch er manchmal das Bedürfnis, sich einzuigeln. Dabei will er genau das Gegenteil.

Trotz Vollzeitstelle bei einem EDV-Großhandel, trotz täglich drei Stunden Fahrt mit den „Öffis“, wie er sagt, und trotz einer pubertierenden 14-Jährigen an einer sogenannten Brennpunktschule: Ralph Lippmann will irgendwie noch Zeit finden, sich für andere Alleinerziehende im Bezirk zu engagieren. Es ist ihm wichtig, etwas zu tun, entgegen aller Vorurteile. Nicht nur für die anderen. Es tut auch ihm ganz gut, sagt er.

Lippmann wirkt zufrieden – und plötzlich sogar richtig glücklich: Tochter Judy kreuzt mit ihrer besten Freundin auf. Judy hat eine Stupsnase, ihr Blick funkelt. Sie trägt grün gefärbte Haare und ultrakurze Shorts. Auch, wenn sie ihren Vater nur einsilbig um Geld für eine Cola bittet, um schnell wieder zu verschwinden, muss Lippmann selig lächeln.

September 2017

Am Ende des Flurs bittet Ralph Lippmann hinein in „sein kleines Reich“. Der Blick aus dem Fenster im 15. Stock eines Hochhauses in der Marzahner Promenade: großartig. Eifrig tischt er Schnittchen mit Käse und Wurst auf. Die Fenster sind mit Plastikblumen dekoriert, Efeudekor an der Tapete über der Küchenzeile.

Judy kommt aus ihrem Zimmer und versinkt nach knapper Begrüßung in der tiefen Polstergarnitur. Diesmal hat sie die Haare schwarz und wirkt vielleicht auch deshalb etwas blasser als beim letzten Mal. Sie kneift die Augen zusammen, bittet den Vater, die Jalousie runterzulassen.

Sie zieht die Schultern hoch. Sagt, ihr Kumpel warte in ihrem Zimmer. Beginnt dann aber doch, ein bisschen zu erzählen. Von ihrer Schule, der Mozart-Schule in Hellersdorf. Die schaffte es 2016 mehrfach in die Medien, wegen Brandbriefen, Schülern, die andere traten und schlugen – sowie Lehrern, die selbst mit Neunjährigen überfordert seien. „Man muss gut kontern können“, sagt Judy bloß. „Und das kann ich zum Glück ganz gut.“

Hat sie trotzdem Freunde da, auf die sie sich verlassen kann?

„Geht so“, sagt sie.

Sie gerät erst ein bisschen mehr ins Plaudern, als sie ihrem Vater vom Ausflug am Nachmittag erzählt. Sie hat mit ihrem Kumpel in einer leer stehenden Sporthalle herumgeschnüffelt. „Ey Papa“, sagt sie und lächelt zum ersten Mal an diesem Abend, „das war voll creepy!“

Das bisher eher verschlossene Gesicht des Vaters wird von einem Grinsen weggewaschen. Auch er ist im Plattenbau groß geworden, im Hohenschönhausen der Wendezeit. Judy berichtet von einer Schaufensterpuppe, die in der Sporthalle am Hals von der Decke hing – und wie sie alles gefilmt haben und nun ein Video schneiden und ins Netz laden wollen.

taz.marzahn – die Serie

Traum vieler junger Familien in der DDR, durchlebte Marzahn-Hellersdorf nach der Wende eine enorme Abwertung. „Lieber ’nen Zahn ziehen als nach Marzahn ziehen“, sagte man.

Heute ziehen so viele Menschen in den Bezirk wie lange nicht – der Bezirk verändert sich, doch hohe AfD-Stimmanteile zeigen: Nicht jedes Negativklischee ist veraltet. Grund genug für die taz, Marzahn-Hellersdorf mit einer Serie unter die Lupe zu nehmen. (taz)

Als Judy wieder auf ihr Zimmer geht, beginnt Ralph Lippmann zu erklären. Bis das Mädchen vier Jahre alt war, kannte er sie nur von Wochenendbesuchen, manchmal alle vier, manchmal alle zwölf Wochen. Judys Mutter und er hatten sich kurz nach der Geburt getrennt. Mit fast fünf Jahren zog Judy zu ihm, in Absprache mit dem Jugendamt und auf Wunsch der Mutter. „Es gab wohl einige unschöne Szenen zwischen den beiden“, sagt er. Was genau, weiß er bis heute kaum. Judys Mutter beschrieb sie als „aggressiv, trotzig, widerspenstig“.

Auch Ralph Lippmann kennt Konflikte in Familien aus der Kindperspektive: Seine Eltern trennten sich, als er sieben war. Er wuchs in zwei konkurrierenden Haushalten mit insgesamt zehn Geschwistern auf, inklusive Halb- und Stiefgeschwistern. Trotzdem sagt er: In seiner Familie herrscht Zusammenhalt. „Jeder hilft jedem, wenn es drauf ankommt“ – wenn zum Beispiel ein Kind spontan betreut werden muss oder das Geld am Ende des Monats knapp wird. Er fand Judy damals wie heute „brav, fleißig, aufgeschlossen“. Sie gingen ins Kino, auf den Rummel, machten Ausflüge mit dem Boot oder in den Filmpark Babelsberg. „Nicht ohne meine Tochter“, schmunzelt er stolz.

Judy und ihr Vater gewöhnten sich aneinander, es lief gut. Doch dann wollte die Mutter, dass Judy zu ihr zurückkommt. Die Belastung wurde zu groß. Vater und Tochter machten eine Eltern-Kind-Kur an der Ostsee, es folgte eine lange Krankschreibung und ein langsamer Wiedereinsteig ins Berufsleben.

Damals hat Ralph Lippmann über vieles nachgedacht. Einen Ortswechsel zum Beispiel. Aber seine Miete ist so günstig, dass sie selbst im Kiez nichts Vergleichbares zu diesem Preis mehr bekommen würden. Außerdem mag Ralph Lippmann sein Viertel – er kennt hier viele, und viele kennen ihn. Also machten sie erst mal so weiter.

Und begannen wieder, alles infrage zu stellen, als Judy im vergangenen Jahr krank wurde. Sie dachten über den endgültigen Abbruch der Beziehungen zur Mutter nach. Oder über den Wechsel auf eine Privat- oder eine Förderschule. Aber wäre das das Richtige für Judy?

Nach einem Zwischenspiel in Prenzlauer Berg war Ralph Lippmann 2004 zurück nach Marzahn gezogen, in ein Haus mit seinen Geschwistern. „Wir waren wie eine riesige WG, über drei Etagen verteilt.“ Vorher hatte er als Musikproduzent gearbeitet, vor allem House und Pop. Auch in Marzahn produzierte er Musik und Videos – von Marzahner Rappern. Die reimten über „ihren Block“ wie zur selben Zeit Sido: „Yeah, du in deinem Einfamilienhaus lachst mich aus, weil du denkst du hast alles, was du brauchst.“ Anders als Sido bleiben sie erfolglos.

Der Abend ist schon weit fortgeschritten. Lippmann möchte auch noch über anderes sprechen: ein Buch, das er gerade schreibt – und die großen Hoffnungen, die sich für ihn daran knüpfen. Es soll „Interessieren – Begeistern – Verkaufen“ heißen, ein Ratgeber. Es soll die zukünftigen Leser inspirieren, sich selbst und ihre Ideen erfolgreich zu präsentieren.

Ralph Lippmann mag seinen Job. Er findet aber auch, dass die Mitarbeiter nicht ausreichend wertgeschätzt werden. Und er fühlt sich nicht gut bezahlt: Von seinem Gehalt kommen Judy und er nach Abzug der monatlichen Kosten gerade so über die Runden. Über die genauen Zahlen möchte er nicht reden, aber er verrät: Längere Urlaubsreisen sind nicht drin. Auch nicht Teilzeit, um mehr für die Tochter da zu sein. Das ginge vielleicht als freischaffender Autor und Unternehmensberater.

Oktober 2017

Ein typischer Familienausflug, wie ihn Ralph Lippmann und seine Tochter hin und wieder machen: ins Jump House. Judy bekommt schnell rote Wangen vom Hüpfen. Sie kichert, ihre inzwischen dunkelbraunen Haare fliegen durch die Luft.

Bei einer kurzen Pause mit lila Slush fällt wieder auf, wie hübsch dieses Mädchen ist, aber auf Komplimente solcher Art reagiert sie nach wie vor nur mit einem leisen „Pfff“.

Was plant sie in den Herbstferien? Schulterzucken.

Was würde sie gern planen? Wieder Schulterzucken.

Judy hat Hunger und wir fahren weiter. Unterwegs klagt sie über Kopfschmerzen. Geradezu ungläubig starrt sie auf den Kübel mit frittiertem Fleisch, den ihr der Vater vor die Nase stellt. Lustlos knabbert sie an einem Hühnchenschenkel herum.

Als Judy zur Toilette geht, sagt Lippmann: „Es ist mir ist das Wichtigste, dass mein Kind behütet aufwächst.“ Aber er kann einfach nicht mehr da sein für sie. Kürzlich, sagt er, haben sie sich über dieses Spiel unterhalten, das neuerdings unter Schülern kursiert. Es heißt „Blue Whale“ und enthält wohl Aufforderungen zu lebensbedrohlichem Verhalten. Es ist ihm unheimlich, dass sie so viel Zeit im Netz verbringt, mit Menschen kommuniziert, die sie nicht kennt. Unheimlicher noch als das Marzahner Umfeld.

In den Herbstferien hat Ralph eine Woche Urlaub bekommen. Er wird die Zeit für Papierkram brauchen. „Vielleicht bekommen wir mal ein verlängertes Wochenende zu zweit hin“, sagt er, als sich Judy wieder zu ihm setzt. Sie strahlt ihn an.

November 2017

Am Telefon berichtet Ralph Lippmann, dass Judy nun doch den Absprung geschafft hat. Sie besucht jetzt eine bessere Schule in Marzahn. Auch hat sie schon eine Eins nach Hause gebracht, in Spanisch. Sie haben, um das zu feiern, am Wochenende einen Kinobesuch geplant.

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