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Archiv-Artikel

LESERINNENBRIEFE

Fortwährende Diskriminierung

■ betr.: „Der Ort des Nichts“, taz vom 25. 10. 12

60 Jahre nach dem Holocaust eine Gedenkstätte für die ermordeten Roma und Sinti – erfreulich oder in dieser Verspätung schon wieder peinlich? Peinlich vor allem, weil es nur Gedenken an die Toten ist und einhergeht mit der Zurückweisung der Ansprüche der Lebenden. Dass nämlich Roma und Sinti sich im Faschismus gleichsam im Schnittpunkt von Rassenanthropologie und Rassenhygiene befanden und daher sowohl einem genetischen wie einem sozialen Rassismus ausgesetzt waren, wird ihnen auch heute noch zum Verhängnis. Ist der biologische Rassismus heute weitgehend geächtet, hat der soziale, rassenhygienisch motivierte Rassismus („Gemeinschaftsschädlinge“) überlebt. Er verhindert, dass in Deutschland in gleicher Weise mit den beiden „Völkern“ umgegangen wird, die gleichermaßen Opfer der Vernichtung geworden sind: Juden und Roma. Juden aus Osteuropa wurden als Kontingentflüchtlinge aufgenommen, die auf dem Balkan in menschenunwürdigen Verhältnissen lebenden Roma werden abgeschoben und obendrein als Asylschmarotzer verunglimpft. Die seit vielen Jahren und gerade aktuell wieder praktizierte Verweigerung einer befriedigenden aufenthaltsrechtlichen Regelung ist letztlich eine staatlich legitimierte Form einer fortwährenden Diskriminierung. Die Einweihung der Gedenkstätte wäre ein Anlass gewesen, darüber nachzudenken.

MICHAEL STOFFELS, Kempen

Alltäglicher Wahnsinn

■ betr.: „Im Hamsterrad“, taz vom 23. 10. 12

Endlich finde ich in der taz Realistisches und Handfestes zum alltäglichen Wahnsinn im Gesundheitswesen. Das Problem ist dieses neoliberale Hamsterrad, an das alle Mitarbeiter im Gesundheitswesen inzwischen wie gefesselt sind und Tag für Tag und Stück für Stück, Ersatzteil für Ersatzteil immer schneller Menschen reparieren sollen. Da werden in den Pflegeheimen immer pflegebedürftigere alte Menschen von immer weniger Mitarbeiterinnen mit immer schärferen Zeitvorgaben technisch einigermaßen gut versorgt. Persönliche Zuwendung, das empathische Gespräch, Zuhören, Mutmachen: Das lässt sich nicht bezahlen, wird oft genug untersagt. Vor 25 Jahren konnte ich als Hausarzt noch für eine Sterbende eine Nachtwache anfordern: heute undenkbar. Keiner wagt mehr, das zu wollen. Wie oft musste ich hoch motivierte Mitarbeiter der Uni-Klinik Kiel durch längere Krankschreibungen vor den dort üblichen – dem Laien oft unvorstellbaren – Arbeitsbedingungen schützen. Früher blieben Schwestern und Pfleger dort im Schnitt fünf Jahre, heute weniger als zwei Jahre an einer Arbeitsstelle, sie kündigen oder werden krank.

Natürlich soll man jetzt in der Charité die Ursachen für die Bakterienbelastungen auf der Frühgeborenenstation mit Nachdruck suchen. Nur selbst wenn eine Schwester in diesem Stressmilieu vergessen haben sollte, ihren Ring vor der Pflege eines Säuglings abzunehmen, kann man dann sagen: Nun haben wir das Problem gelöst, die Schwester war’s? Ich habe diesen Prozess der „Verdichtung“ meiner Arbeit als Hausarzt die letzten 20 Jahre hautnah miterlebt und miterlitten. Immer häufiger hatte ich den Eindruck, dass man Quantität meinte (zum Zwecke des Sparens), wenn man von Qualität sprach. PETER REIBISCH, Kiel

Wer darf für wen sprechen?

■ betr.: „ ‚Mädchenmannschaft‘ komplett ausgewechselt“,taz vom 23. 10. 12

Kann es einen Feminismus ohne Streitkultur geben? Antirassismus ohne eine Auseinandersetzung über verschiedene Standpunkte? Kann man glaubwürdig auf Vielfalt setzen und gleichzeitig pedantisch darüber wachen, dass auch ja kein falsches Wort gesagt, keine Äußerung gemacht wird, die irgendwie verfänglich sein oder irgendwen brüskieren könnte? Wohl kaum. Es war gut und richtig, dass die „Alphamädchen“ klargestellt haben, dass Feminismus keine männerfeindliche Lilalatzhosenangelegenheit ist. Allerdings: Wo ein „Alpha“ ist, muss es auch Beta, Gamma, Delta und so weiter geben. Sonst macht das „Alpha“ keinen Sinn. Wer „Anführer“ sein, „Leadership“ oder auch „Avantgarde“ unter Beweis stellen will, braucht welche, die ihm (oder ihr) nachfolgen. Das rückt den zeitgenössischen Feminismus so unangenehm in die Nähe von Machtverhältnissen und, ja, auch Diskriminierung. Auch wenn es gar nicht so gemeint war.

Auf den „Slutwalk“ bin ich nicht mehr gegangen, weil ich fand, dass da zu viele adrette, akademisch gebildete Töchter aus gutem Hause waren. Eigentlich war ich sogar wütend, weil es mir so vorkam, als ob sie nun auch noch das Feld der „Schlampe“ für sich erobern wollten. Wer darf für wen sprechen? Wer ist „Alpha“, wer „Beta“?

Ich persönlich finde, dass der zeitgenössische Feminismus eher ein Rückschritt ist: zu sehr darum bemüht, zu gefallen und nichts falsch zu machen, eher eine Marketingstrategie als ein Aufbegehren, zu sehr angekommen an der Spitze dieser Gesellschaft und damit eben auch zu sehr an bestehende Machtverhältnisse angepasst. Es scheint, auch was antirassistische Strategien betrifft, tatsächlich eher darum zu gehen, wer für wen sprechen darf, wer „Alpha“ und wer „Beta“ ist. Diskursmacht, nicht Diskussion miteinander.

Es ist kein Rassismus, wenn eine Weiße sich für das Schicksal von Migrantinnen interessiert und dazu auch öffentlich Position bezieht. Es ist Rassismus, wenn sie glaubt, es besser zu wissen und dass Migrantinnen nicht für sich selbst sprechen könnten. Genauso darf eine Tochter aus gutem Hause über den Tellerrand schauen und sich mit am Rande der Gesellschaft lebenden „Schlampen“ solidarisieren. Sie darf sie allerdings nicht noch weiter an den Rand drängen. Finde ich. Und darüber können wir jetzt auch gerne streiten.

DANIELA HOEHN, Berlin