: Fernab von allem Kitsch
Die richtige Verständigung mit einem Vogel blieb ihm versagt – was von Claude Lévi-Strauss aktuell bleibt
■ Hartes Brot ist es, sein erstes bedeutendes Werk zu lesen: In „Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft“ (1948) betreibt Lévi-Strauss höhere Erbsenzählerei. Er untersucht anhand empirischen Materials die Verwandtschaftsbeziehungen in sogenannten primitiven Gesellschaften. Der Clou: entscheidend ist nicht die Abstammung, sondern es sind die Allianzen, die einzelne Familien miteinander eingehen, indem sie ihre Frauen „tauschen“.
■ Sehr viel besser lesbar ist sein berühmtestes Buch: „Traurige Tropen“ (1955), das zu einem internationalen Bestseller wurde. Ein auch literarisch großartiger Reisebericht durch den Urwald Südamerikas. Grundidee: Man findet keine Ursprünglichkeit. Jeder Kontakt mit sogenannten „Eingeborenen“ ändert ihre Kultur.
■ Geradezu zu einem geflügelten Wort geworden ist der Titel seines Buches „Das wilde Denken“. Hierin entwickelt Lévi-Strauss seine These, dass das Denken vermeintlich primitiver Kulturen demjenigen der modernen Industriegesellschaften keineswegs unterlegen ist, sondern lediglich auf andere Ziele gerichtet. Zentral ist der Begriff der Bricolage, der Bastelei. Jede Kultur bastelt sich ihre Weltsicht zurecht – und alle sind dabei denselben Strukturmerkmalen unterworfen, etwa dem der binären Opposition: Das Denken in Gegensatzpaaren, etwa heiß-kalt, lässt sich stets auffinden. Der grundlegende Gegensatz ist der zwischen Natur und Kultur.
■ Wer richtig einsteigen will, muss seine Studien über Mythen lesen. Bd. 1: „Das Rohe und das Gekochte“ (1964), Bd. 2: „Vom Honig zur Asche“ (1966), Bd. 3: „Vom Ursprung der Tischsitten“ (1968), Bd. 4: „Der nackte Mensch“ (1971).
■ Die deutschen Übersetzungen sind alle im Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M., erschienen.
VON CORD RIECHELMANN
Es gibt ein Foto, auf dem Claude Lévi-Strauss mit einem schwarzen Vogel, der auf seiner Schulter sitzt, zu sehen ist. Die beiden wirken vertraut, aber es bleibt ein Rest an Distanz zwischen Vogel und Lévi-Strauss.
„Ich hätte mich gern einmal richtig mit einem Tier verständigt. Das ist ein unerreichtes Ziel. Aber da ist die Grenze, die nicht überschritten werden kann“, hat Lévi-Strauss einmal in einem Interview gesagt, als er bereits über achtzigjährig nach seinen verbleibenden Wünschen gefragt wurde. An dieser Grenze hat er bis zuletzt nicht gerüttelt. Er hat sie, als er in der Nacht vom vergangenen Samstag auf Sonntag kurz vor seinem 101. Geburtstag in Paris verstarb, mit ins Grab genommen.
Das kann man wie ein Vermächtnis lesen. Der einflussreichste Ethnologe des 20. Jahrhunderts hält einen aus dem Kitsch-Universum fern, das Mensch und Tier in einen Topf wirft und das auch noch für fortschrittlich hält, wie es zurzeit etwa exemplarisch der Wissenschaftsdenker Bruno Latour tut. Erstaunlich ist der Verweis auf eine letzte Grenze bei Lévi-Strauss aus den verschiedensten Gründen. Es gibt im 20. Jahrhundert kaum einen Denker, den man nachhaltiger mit dem Verdikt des Antihumanismus belegt hat als Lévi-Strauss. Er selbst hat dem nie deutlich widersprochen. Im Gegenteil: Lévi-Strauss, der 1931 in Frankreich die Lehrbefähigung für Philosophie erhalten hatte, war über die Beschäftigung mit Marx, Engels und Freud auf die Ethnologie gestoßen worden, die er zuerst nur als eine vage Möglichkeit ansah, das enge und aggressive Korsett des in der Renaissance entwickelten abendländischen Humanismus und seines Menschenbildes zu verlassen.
Entgrenzter Humanismus
Der Humanismus war es, der für Menschen und Tiere Grenzen formulierte, die, so sah es Lévi-Strauss, jederzeit verschoben werden können. Dadurch können Menschen zu Tieren werden und auf eine Weise eingesperrt und verfolgt werden, wie man es an Tieren erprobt und seit der industriellen Moderne ununterbrochen praktiziert. Diese Praxis, das sah Lévi-Strauss in den politischen Entwicklungen im Europa der 30er-Jahre ziemlich deutlich, wurde gerade unter humanistischen Floskeln, in denen andauernd vom Menschen die Rede war, in Richtung Rassismus und ausschließenden Herrenmenschenkult verschärft.
Deshalb kann man die Annahme einer Professur in São Paulo 1935 auch als eine im leisen Streit vollzogene Abkehr vom Frankreich seiner Herkunft sehen. In Brasilien unternimmt er mehrere Expeditionen, die ihn in bis dahin nicht erschlossene Gebiete der Amazonas-Indianer vordringen lassen. Dabei macht er eine nur scheinbar paradoxe Entdeckung: Desto weiter die Indianer von der Zivilisation entfernt leben, desto ärmer und dürftiger bieten sich ihre Kulturen und ihre Lebensbedingungen dar. Sie sind keine unberührten „Wilden“ mehr, sie sind bereits in den 30er-Jahren von der westlichen Zivilisation kontaminiert, ihre Kultur ist wesentlich zerstört und sie sind auf die einfachsten Formen sozialen Lebens zurückgeworfen worden.
Es war dieser Schock angesichts der Armut der Existenzformen der Amazonasindianer, der Lévi-Strauss die Brille tauschen ließ und ihn zum Ethnologen machte. Es ging ihm nicht mehr um ein Urteil, sondern um die Beschreibung dieser Lebensformen; aber bis er die Instrumentarien für deren Analyse zusammenhatte, verging noch viel Zeit. 1939 kehrt er zurück nach Frankreich und wird an die Maginotlinie einberufen. Dort hatte er, wie er später sagte, sehr viel Zeit, weil er nichts anderes zu tun hatte, als auf einen Angriff zu warten. Dort habe er oft lange im Gras gelegen und Blütenformen studiert – dabei sei es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen: Die Blüten waren kein Zufall, sie waren Struktur. Wie man aber das, was für Lévi-Strauss an den Blüten Struktur war, auf seine Indianerdaten aus dem Amazonas anwenden konnte, dafür fehlte ihm 1939 noch das Werkzeug. Er sollte es erst im New Yorker Exil an der New School for Social Research, wo er von 1941–44 lehrte, über den Linguisten Roman Jakobsohn kennenlernen. Unter dem linguistischen Blick wurden alle menschlichen Verhaltensweisen für Lévi-Strauss zu Zeichen in einem Kommunikationssystem.
„Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft“, die er im Jahre 1949 zurück in Paris in Frankreich veröffentlicht, sind die Grundlegung seiner Ethnologie sowie einer ganzen Denkrichtung. Es war zu gleichen Teilen eine Theorie des Inzests wie eine Theorie der sozialen Evolution und einer der Grundsteine dessen, was man später Strukturalismus nennen sollte. Dabei hatte das Buch überhaupt nichts Sensationelles. Georges Bataille bewunderte an den elementaren Strukturen die Ausdauer und den Gleichmut, mit der Lévi-Strauss dieses „unendlich langweilige“ Material entfaltete. Die große Vielfalt der institutionalisierten Formen von Heirat der amerikanischen Indianer, mit denen sie das Inzestverbot in gesellschaftliche Regeln lenkten, hatte Lévi-Strauss in grafische Darstellungen und Formeln übersetzt, die die subjektive Instanz als eine von den Objektbedingungen abhängige zeigte.
Die entscheidende Neuerung gegenüber der traditionellen Ethnologie, die er in der Folge in den „Traurigen Tropen“ von 1955 und der „Strukturalen Anthropologie“ von 1958 unmissverständlich klar artikulierte, war aber nicht seine Konzeption der Subjektinstanz, sondern sein fundamentaler Bruch mit jeder Form einer linearen Geschichtskonstruktion. Die „Wilden“ oder „Primitiven“, als die eine vom Kolonialismus geprägte Anthropologie die Stämme des Amazonas und anderer sogenannter „unterentwickelter“ Weltgegenden bezeichneten, standen an keinem Anfang. Sie hatten eine genauso lange Entwicklungsgeschichte hinter sich wie die zivilisierten Gesellschaften auch. Sie hatten nur auf andere Dinge, Klassifizierungen und Traditionen Wert gelegt als die schriftmächtigen Gesellschaften der Industrienationen.
„Die Klassifizierungen der Eingeborenen sind nicht nur methodisch und auf ein festgefügtes theoretisches Wissen begründet. Es kommt auch vor, dass sie in formaler Hinsicht mit den Klassifizierungen verglichen werden können, die von Zoologie und Botanik noch immer verwendet werden“, schreibt er in „Das wilde Denken“. Lévi-Strauss findet gerade, wenn es um Pflanzen und Tiere geht, in den Mythen und Riten der Indianer Elemente einer systematischen Wahrnehmung der Natur, die besonders die frühen Reisenden aus den Kolonialmächten mit ihren „aufs Geratewohl“ getroffenen Einteilungen wie Deppen aussehen lässt.
Blick auf das Leiden
Lévi-Strauss gelingen in der Beschreibung und Analyse des mythischen Indianerwissens um die Tiere Porträts etwa des Luchses, des zweizehigen Faultiers oder der Nachtschwalbe, die literarisch einmalig sind und neben den positivistischen Befunden der modernen Biologie vor allem eines einführen: einen Blick auf die Leidensfähigkeit der Kreatur. Über die Leidensfähigkeit hinaus gibt es aber noch eine Gemeinsamkeit zwischen dem Autor und den Tieren: Das menschliche Subjekt kennt das ihn konstituierende Feld so wenig wie der Blutegel, der Mehlwurm oder die Heuschrecke das ihre. Deshalb kann Lévi-Strauss behaupten, dass sich moderne Menschen in ihrem Konsumismus nicht so sehr von Mehlwürmern unterscheiden, die sich im Mehlsack entwickeln und an ihren eigenen, selbstproduzierten Giften zugrunde gehen. Wir werden, hat er in einem späten Interview einmal gesagt, zu bulimischen Konsumenten, die ihre Grundlagen buchstäblich selbst wegessen.
Das klang düster, wurde von Lévi-Strauss aber mit dem kleinen Zusatz serviert, das nur der Pessimismus überhaupt ein bisschen Optimismus rechtfertigen kann. Dieser Zipfel Optimismus folgte für ihn aus seiner strukturalen Methode, die es ermöglicht, die Struktur als ein Reservoir oder Repertoire zu erkennen, worin alles, das Heiße und das Kalte, das Rohe und das Gekochte, das Schlechte und das Gute, virtuell nebeneinander existiert. In deren jeweilige gesellschaftliche oder kulturelle Verwirklichung, mit Lévi-Strauss Worten: Aktualisierung, aber regelmäßig Wege beschritten werden, die auch vorhandene Möglichkeiten ausschließen.
Weil auf dem Weg der Entscheidung zum Ausschluss des einen oder des anderen immer auch unbewusste Kriterien zum Einsatz kommen, sind Selbstbewusstsein und Subjekt komplett unvollständige Akteure. Der Zugang aber zur Kenntnis der Struktur kann nur der Mensch erreichen und damit auch die Wahl treffen, wie er leben will. Der Vogel ist zu sehr Ergebnis einer zufällig eingeschlagenen Richtung, deren Mechanismen ihm verschlossen bleiben. Die anderen Möglichkeiten als den gängigen Weg bereits in der Struktur erkannt zu haben, bleibt Lévi-Strauss’ Aktualität über die Details hinaus, die der wissenschaftliche Fortschritt mit Akribie meint erledigen zu müssen.