„In die Morde verstrickt“

LESUNG Ein Buch über Gesche Gottfrieds Morde betont des Bremer Bürgertums zweifelhafte Rolle

■ 56, Schriftsteller und Auto mehrerer Graphic Novels, darunter „Gift“ zum Fall Gesche Gottfried. Er lebt in Worpswede.

taz: Herr Meter, wenn Sie über den Domshof gehen, spucken Sie dann auch auf den Stein, wo Gesche Gottfried hingerichtet wurde?

Peer Meter: Auf keinen Fall! Ich habe ja gerade versucht, das Bild von Gesche Gottfrieds Fall zu korrigieren, das dieser Tradition zu Grunde liegt. Die Geschichte um die 15 Giftmorde, die sie von 1813 bis 1827 begangen hat, war lange von den Büchern ihres Verteidigers Friedrich Leopold Voget geprägt. Er versuchte, das Bürgertum reinzuwaschen und Gottfried als kalt berechnende Mörderin darzustellen, die alle getäuscht hat.

Und was sagen Sie dazu?

Man hat ihr unterstellt, ihre Opfer aus Raffgier vergiftet zu haben. Aber es gab keine Motive für die Morde. Vermutlich war sie psychisch krank. Alles hat sich in der Pelzerstraße abgespielt. Ihre Opfer hatten alle die gleichen Vergiftungs-Symptome, es gab unzählige Hinweise darauf – aber niemand wurde tätig. Man muss es so hart formulieren: Die Ärzte haben völlig versagt, darunter auch Wilhelm Olbers.

Was hat der Astronom damit zu tun?

Olbers hat als Arzt das fünfte Opfer obduziert. Nach dem ersten Schnitt diagnostizierte er eine Darmverschlingung als Todesursache und brach die Untersuchung ab – damals wie heute undenkbar! Hätte er weiter obduziert, so hätte er erkennen können, dass der Magen vom Gift verätzt war. Vor Gericht weigerte sich Olbers auszusagen und gab nur einen Zettel ab, mit dem er jede Verantwortung von sich wies. Der Kriminalfall ist aufs Schockierendste auch ein Fall des Versagens des Bremer Bürgertums, das in die Morde verstrickt und dafür mitverantwortlich ist. Und: Gottfrieds Geschichte erzählt auch von der Unterdrückung der Frau.

Inwiefern?

Sie war eine hochintelligente Frau, anscheinend mit einem fotografischen Gedächtnis. Sie wurde sehr früh an einen Alkoholiker verheiratet und hatte keine Möglichkeit, sich zu entwickeln. Als Frau war es zur damaligen Zeit unmöglich zu studieren. Auch war sie wohlhabend, ihr Vermögen wurde aber von ihrem Liebhaber Friedrich Dolge verwaltet, der ihr Haus an sich bringen wollte und ihr weismachte, sie sei arm.

Wieso war das so viele Jahre nicht bekannt?

Die Prozess-Akten waren lange verschollen. Während des Zweiten Weltkrieges wurden sie mit anderen Bremer Dokumenten in einem Stollen im Harz gesichert. Die Roten Armee hat sie entdeckt und nach Moskau gebracht. Erst durch ein Kulturabkommen mit der DDR kamen sie 1987 wieder nach Bremen. Interview:jpb

19 Uhr, Zentralbibliothek am Wall.

„Gesche Gottfried – Eine Bremer Tragödie“, Edition Temmen 2010