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Neutralität neu gedacht

Die Finnen bäumen sich energetisch auf. Sie setzen zukünftig auf eine nachhaltige Wirtschaftspolitik, die die natürlichen Ressourcen schont. Denn auch im hohen Norden Europas ist der Klimawandel spürbar

Wer aus dem Tagungsraum des Finnischen Nationalfonds für Forschung und Entwicklung (Sitra) schaut, blickt frontal auf eines der beiden Kohlekraftwerke, die Helsinki „einheizen“. Noch, denn in wenigen Jahren sollen sie abgeschaltet werden. Wollen doch die Finnen allen Europäern zeigen, wohin ihr Land in Zukunft steuert: in Richtung erneuerbar, nachwachsend und mit einer Wirtschaft, die in Kreisläufen denkt und handelt. Das ist das erklärte Ziel des Landes, das 1917 nach über 100 Jahren zaristischer Fremdherrschaft seine Unabhängigkeit errang.

Der 100-jährige Geburtstag wird in diesem Jahr ausgiebig gefeiert. Dabei scheinen die Finnen die Gelegenheit zu nutzen, sich in Europa, ja in der ganzen Welt neu zu positionieren. „Wir streben an, ein Spitzenland der Kreislaufwirtschaft zu werden“, unterstreicht Umweltminister Kimmo Tiilikainen die Ambitionen seines Landes, das zwar fast so groß wie Deutschland ist, aber „nur“ knapp 5,5 Millionen Einwohner zählt. Dieses Bekenntnis zur klimaneutralen Nachhaltigkeit wurde zudem durch das erste „World Circular Economy Forum“, mit allerlei medial-hippem Brimborium in der finnischen Hauptstadt von der unabhängigen Sitra veranstaltet, bestens flankiert. Neben mehr als 2.000 Gästen aus allen Teilen der Welt nahm eben auch der finnische Umweltminister teil, der eine klimaneutrale Energieerzeugung bis zum Jahr 2045 in Finnland postulierte. Darüber hinaus warb er für eine zügige Transformation der noch fossil dominierten Wirtschaft hin zu einer biobasierten und kreislauforientierten. „Weg von der Ölpipeline“, sagt Tiilikainen.

Getreideernte im Schnee

Das klingt vorbildlich und ermutigend angesichts weltweiter Ressourcenverschwendung und fortschreitenden Klimawandels. Der im Übrigen auch nicht in Finnland haltmacht. Nach einem extrem kalten Sommer und einem nicht enden wollenden Regen im Frühherbst, konnte erst Ende Oktober, auf schon leicht gefrorenem Boden und bei einsetzendem Schneefall, Hafer und Bohnen gedroschen werden. Was für ein Bild: Mähdrescher ernten Getreide bei einsetzendem Schnee! „Das hatten wir hier noch nie“, erzählt Kurt Stenvall in der Ortschaft Jeppo rund 400 Kilometer nordwestlich von Helsinki, wo er die – eine Zeit lang nördlichste Biogasanlage Finnlands – managt. „Das ist schon extrem“, fügt der Endfünfziger hinzu und hofft, dass Biogas in Zukunft eine größere Rolle als bisher in Finnland spielen wird. Nicht so sehr für den Strommarkt, sondern als Gas für den Verkehr. Doch noch gibt es nur geschätzte 3.500 Autos, die in Finnland mit Gas fahren. Nicht wirklich viel, so dass es nicht verwundert, dass die Gastankstelle direkt neben der Biogasanlage von Jeppo nur von ein oder zwei Autofahrern pro Tag angesteuert wird.

So gibt es im Land der Seen, Saunen und Elche noch viel zu tun, um das selbstgesteckte Ziel Klimaneutralität tatsächlich zu erreichen. Zuzutrauen ist es ihnen, wenn es da nicht die finnische Atomwirtschaft gäbe, die bereits vier Atomkraftwerke am Start hat. Überdies baut sie an einem fünften Reaktorblock seit vielen Jahren – unterstützt mit einem Kredit der Bayerischen Landesbank. „Kurzfristig ist die Nutzung von Atomstrom zur Minderung des CO2-Ausstoßes nötig, langfristig ist sie sicherlich nicht ideal“, räumt Tiilikainen etwas kleinlaut ein.

Aber unabhängig dieses Makels haben die Finnen in der Tat etwas zu bieten, was für viele Länder dieser Welt unerreichbar erscheint: Weit über 75 Prozent der Landesfläche ist bewaldet. Und obwohl es in Finnland eine straff organisierte Forst- und Papierindustrie gibt und die vollautomatischen Erntemaschinen in fast allen Regionen ständig fleißig Bäume fällen, nimmt der Forst-/Waldbestand nicht ab, sondern sogar zu. So vermitteln es zumindest die Statistiken, so versichert es die finnische Holzwirtschaft, ebenso die finnische Politik.

Kein Kannibalismus mehr

Angesichts dieses Szenarios ist klar, dass die finnische Variante der Bioökonomie zu großen Teilen auf holziger Biomasse basiert. Derzeit stammen rund 40 Prozent aller in Finnland hergestellten biobasierten Produkte aus dem nachwachsenden Rohstoff Holz. Neue, innovative Produkte sollen hinzukommen. Und diese lassen sich nach ihrer Nutzung beziehungsweise nach ihrer Lebenszeit wunderbar recyceln: ob nun energetisch oder stofflich, bestenfalls zurück in die Wälder, woher die Biomasse ursprünglich kommt.

Ein Kreislauf schließt sich, der sich über 100 Jahre spannen kann. Es ist ein Wirtschaftsstil, der so gar nicht ins kurzfristige Profitdenken einer von Börsen und Finanzindustrie getriebenen Weltwirtschaft passt. Aber allein schon der Gedanke, dass die Finnen sich mehrheitlich gegen den wirtschaftlichen Kannibalismus der Gegenwart, im wahrsten Sinne des Wortes, aufbäumen wollen, ist sympathisch. Vorausgesetzt allerdings, es sind keine Papiertiger, die anlässlich des hundertjährigen Staatsjubiläums produziert werden. Dierk Jensen

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