: Sind hier Briefkästen?
Der Fall Norderfriedrichskoog: Die Gemeinde galt als „Klein-Monaco“ Schleswig-Holsteins, weil sie keine Gewerbesteuer erhob – zum Ärger des Innenministeriums in Kiel. „Die Steueroase ist jetzt trocken gelegt“, heißt es von dort. Trotzdem ist die Firmendichte im Ort noch auffällig hoch
von Esther Geißlinger
Wenn früher Fernsehteams nach Norderfriedrichskoog kamen – und eine Zeit lang waren es sehr viele –, filmten sie alle das grüne Ortsschild auf der Deichkrone, schwenkten über das Panorama der Bauernhöfe mit den daneben liegenden Ställen unter dem weiten Himmel, lichteten die Kühe ab, die seitab am Deich grasen. Die Texter dichteten Schlagzeilen, in denen Begriffe wie „Klein-Monaco“ oder „Steueroase hinterm Deich“ auftauchten – eine Umschreibung dafür, dass der Ort keine Steuern verlangte. Nicht für Hunde, nicht für Grundstücke. Nicht für Gewerbebetriebe.
„Wir hatten ja kein Gewerbe. Wenn wir Steuern erhoben hätten, wäre trotzdem nichts in die Kasse gekommen“, sagt Jan Henning Dircks, seit gut einem Jahr Bürgermeister des Ortes.
Vor einem Jahr zwang ein Gesetz, auch „Lex Norderfriedrichskoog“ genannt, die Gemeinde dazu, doch Steuern zu erheben. Mindestens 200 Prozent des vom Finanzamt festgelegten Messbetrages (siehe Kasten) muss ein Ort einziehen. In Norderfriedrichskoog waren das 28,6 Millionen Euro, 680.952 Euro auf jeden der 42 Einwohner. Das ist gut für Nachbarorte wie Poppenbüll, Uelvesbüll oder Oldenswort, die über die Umlage davon abbekommen. Für Norderfriedrichskoog hat es auch etwas Gutes: Es kommen weniger Fernsehteams.
Der neue Betrag ist immer noch niedrig: In Oldenswort oder Poppenbüll liegt der Hebesatz bei 320 Prozent, Frankfurt oder München verlangen 490 Prozent. Also sind die meisten Firmen im Koog geblieben. Noch.
Die Firmen: In der Blütephase waren es über 400. Bürgermeister Dircks erinnert sich, dass sein Vorgänger vor etwa 15 Jahren stolz erzählte, er habe jetzt eine Firma im Haus: „Alle haben drüber geschmunzelt.“ Dann brach der Boom los. So um das Jahr 2000 herum, als es 427 Fimren im Ort gab, „war es schon an der Grenze“, sagt der Bürgermeister. „Da fingen einige an, wirklich abzudrehen.“ Die Deutsche Bank war da, Lufthansa, E.on, Unilever. Mit festen Büros in der Null-Steuer-Gemeinde.
„Briefkastenfirmen?“, fragt Margret Dircks. Sie ist die Tante des Bürgermeisters, und in ihrem Haus haben zwischen 20 und 30 Firmen ihren Sitz. „Da ist gerade der Postbote, fragen Sie den.“ Und macht es selbst: „Sind hier Briefkästen?“ „Nein“, sagt der Postbote.
Briefkastenfirmen sind nicht erlaubt in Deutschland. Eine Firma, die in Norderfriedrichskoog besteuert werden will, muss ihren Hauptsitz hinter den Deich verlegen. Sie muss ihre Jahresversammlungen abhalten, erreichbar sein, arbeiten. Das, sagt Margret Dircks, sei auch so, und Kurt Kahlke, der Kämmerer des Amtes Eiderstedt, bestätigt: „Alles rechtens.“
Norderfriedrichskoog lebt von der Landwirtschaft, sagt Bürgermeister Dircks. Die Gemeinde ist klein, eine Hauptstraße, die Koogstraat heißt, ein paar Querstraßen hinunter zum Deich. Der Ort, trotz des weiten Himmels und der Ruhe, ist kein Urlaubsziel wie Sankt Peter Ording. „Wenn die Firmen weg wären, wäre es schwer, die Verluste durch Vermietung an Touristen auszugleichen“, sagt Bürgermeister Dircks, der im Hauptberuf Landwirt ist, aber ein paar Zimmer frei hat für Geschäftsleute. Er hofft, dass sie bleiben.
„Norderfriedrichskoog läuft weiter“, sagt Margret Dircks. „Die 200 Prozent tun uns nicht weh.“ Die 53-Jährige sitzt in ihrem Büro, von dessen Fenster die leere Straße und ein Stall zu sehen sind, und erklärt, warum Norderfriedrichskoog Deutschland nicht schadet, sondern hilft. „Man wirft uns vor, wir seien unsozial, aber das stimmt nicht. Wenn Norderfriedrichskoog dafür sorgt, dass es woanders besser flutscht, dann sind wir doch gar nicht so schlimm.“ Denn die Firmen, die ihren Hauptsitz nach Eiderstedt verlegt haben, gehen nicht ins Ausland: „Meine Mieter reisen nicht mit einem Koffer in die Schweiz, die investieren das Geld in ihre Betriebe.“
Zu den Büros in Margret Dircks‘ Haus geht es eine Treppe hinauf, an der Wand hängt eine scherzige Hausordnung mit Regeln wie „Wer unsere Oma beleidigt, muss sie mitnehmen“. Von einem Flur gehen mehrere Räume ab, in denen Schreibtische stehen, darauf Computer, einzelne Stifte. Keine Aktenstapel, keine Familienfotos, keine Kaffeetassen, keine Menschen. Keine Anzeichen dafür, dass hier über 20 Firmen arbeiten. Dafür viele Telefone. Eine Mitarbeiterin feudelt den Bodenbelag. „Es gibt Tage, an denen brummt es hier richtig“, sagt Dircks. An manchen Wochenenden reisten die Geschäftsführer sogar mit Familie an.
Margret Dircks sagt, wie Norderfriedrichskoog funktioniert: „Wenn ein Betrieb in München Schrauben herstellt, mit 2.000 Mitarbeitern, dann wird dieser Betrieb dort verwaltet. Aber die Gebäude dieses Betriebes verwaltet eine eigene Firma. Und dafür fällt ja nicht viel Arbeit an. Da muss nicht ständig jemand hier sein.“
Für die Betriebe, bei denen doch etwas mehr Arbeit anfällt, bietet Margret Dircks einen Büroservice an: Sie und ihre beiden Mitarbeiterinnen nehmen die Anrufe auf den vielen einsamen Telefonen in der oberen Etage entgegen. So viele Gespräche sind es allerdings nicht, mit drei Leuten ist die Arbeit gut zu bewältigen. Die Deutsche Bank hatte damals eigene Leute in der oberen Etage sitzen. „Das wäre mir auch zu kompliziert gewesen“, sagt Margret Dircks.
Das Modell Norderfriedrichskoog funktionierte, weil die Menschen profitierten – nicht die Gemeinde: Ihre wenigen Pflichtausgaben bezahlte sie aus Raten für einen Landverkauf. Norderfriedrichskoog brauchte nichts und zahlte nichts.
„Ein Ärgernis“, sagt Klaus Stöfen, Referatsleiter für den kommunalen Finanzausgleich im Kieler Innenministerium. Denn so sehr Margret Dircks auch beteuert, dass die Firmen im Koog zwar Steuern sparen, aber unter dem Strich doch gut für Deutschland sind, so weh tut es dem Normalbürger und den Verwaltern des Fiskus, dass die Riesen ihre Millionengewinne hinterm Deich in Sicherheit bringen. „Die Steueroase ist jetzt trockengelegt“, sagt Thomas Giebeler, Sprecher des Innenministeriums, und er wie auch Stöfen klingen sehr zufrieden.
Von der jetzigen Situation profitieren die umliegenden Orte und der Kreis Nordfriesland. „Die Gemeinde selbst hat nichts davon“, sagt Amtskämmerer Kurt Kahlke. „Die stecken alles in die Rücklage.“
Denn die Frage ist, wie lange die Gemeinde mit dem Steuerniveau von 200 Prozent durchhalten kann. Der Ort sitzt jetzt im Ausgleichskarussell, aus dem er sich früher herausgehalten hatte. Es könnte sein, dass irgendwann die Einnahmen nicht mehr ausreichen, um die Forderungen zu zahlen: „Und dann müssten wir den Steuersatz erhöhen, Hundesteuer und alles nehmen“, fürchtet Bürgermeister Dircks. Im vergangenen Jahr zählte er zu den wenigen, die klagen wollten gegen den Zwang von 200 Prozent. „Aber ich bin überstimmt worden, und dann vertrete ich das jetzt“, sagt er. Nun klagt eine Gemeinde aus Mecklenburg-Vorpommern.
Heute, ein Jahr danach, bedauerten einige, dass der Koog so schnell aufgegeben hat, erzählt Dircks: Der Schlachter aus dem Nachbarort, der die kalten Platten für die Vorstandssitzungen lieferte. Die Vermieter ringsum, die ihre Ferienwohnungen loswurden an die Koog-Gäste.
Die Nachbargemeinden und der Kreis dagegen wollen den heutigen Stand behalten. Ein „Hilfsfonds“ solle gegründet werden, erklärt Kämmerer Kahlke. In den könnten die Nachbargemeinden und der Kreis einen Teil des Geldes einzahlen, das sie durch Norderfriedrichskoog sparen. Damit könnte die Gemeinde den Finanzausgleich leisten. Auch das Land müsste etwas beitragen, wünscht sich Kahlke, „aber die Bereitschaft ist nicht erkennbar“. Allerdings nicht: „Wir behandeln alle gleich“, sagt Referatsleiter Klaus Stöfen. Zurzeit habe die Gemeinde noch Geld, „und über die Zukunft wollen wir nicht spekulieren“.
Norderfriedrichskoog könne schließlich seinen Hebesatz angleichen, meint er süffisant – damit wären die Firmen allerdings weg. Und Fernsehteams kämen gar keine mehr.