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Archiv-Artikel

Sein Mädchen

Es war nicht Kohl. Es war Lothar de Maizière, der Angela Merkel lehrte, über sich hinauszuwachsen. Er schlug sie auch als Ministerin vor. Doch eines Tages stockte ihm der Atem

VON NADJA KLINGER

Alle Jahre wieder verabreden sich die Bundestagsfraktionen von CDU und CSU zum Spargelessen. Diesmal haben sie auch Lothar de Maizière geladen. Lange nach dem Mauerfall ist Spargel für einen Ossi nicht mehr der Brüller. Aber die Einladung an sich war pikant. De Maizière ging hin und suchte sein Platzkärtchen.

Oft, wenn er eine gewisse Scheu überwunden und sich in Gespräche verwickeln lassen hat, staunt die illustre Gesellschaft, weil er beim Erzählen wie im Rausch die Punkte seiner Sätze überrennt. Weil er hier und da winzige Pointen streut. Weil er handfeste Witze macht.

„Nanu“, sagen die Leute, „Sie können ja lustig sein!“ Sie haben ein Bild von ihm im Kopf: Ein kleiner, hagerer Mann mit weißem Bart geht leicht gebückt hinterm Fleischberg Helmut Kohl her in die Deutsche Einheit. „Ach, wissen Sie“, sagt er zu den Leuten, die sich nie darum geschert haben, wer er wirklich ist, „ich hatte damals nichts zu Lachen.“

Fünfundsechzig Kilo wog Lothar de Maizière, als er der erste frei gewählte Ministerpräsident der DDR wurde. Mit Kaffee und Zigaretten regierte er das Land. Nach 181 Tagen war Wiedervereinigung. Sein Körpergewicht belief sich noch auf 52 Kilo, als er im Oktober 1990 in der DDR das Licht ausknipste. Beim Spargelessen 2005 fand er sein Platzkärtchen an einer Stelle vor, an der nicht damit zu rechnen war. „Es stand sozusagen auf dem VIP-Tisch“, sagt er.

Schuld war Gerhard Schröder. Just in der Spargelzeit hatte der beschlossen, den Bundestag aufzulösen. Beim Essen plauderte nun Angela Merkel mit Lothar de Maizière, dann fragte sie: „Würdest du ein bisschen Wahlkampf mitmachen?“ Er antwortete, darüber könne man reden.

Hat man aber nicht. Bis Jörg Schönbohm und Edmund Stoiber öffentlich preisgaben, dass sie nicht gut auf Menschen in den neuen Bundesländern zu sprechen seien. Die CDU brauchte jemanden, der losfuhr und die Ossis beruhigte. Man rief in Lothar de Maizières Kanzlei an. Der Anwalt blätterte im Kalender. Tabu waren die Abende, an denen er mit seiner Bratsche im Streichquartett musiziert. Ein paar freie Termine fanden sich. Er war in der Prignitz, in Hoyerswerda, bis zur Wahl soll er in jedem Ostbundesland gewesen sein. Er sagt den Menschen: „Ich bin ebenso betroffen wie Sie. Sorgen aber macht mir, dass Sie sich so aufregen. Haben Sie denn kein Selbstbewusstsein?“

Als man ihn im Herbst 1989 bat, Vorsitzender der DDR-CDU zu werden, hat ihm sein Freund, der Rechtsanwalt Gregor Gysi, geraten: „Alles im Land wird auf den Kopf gestellt. Jemand muss verantwortungsvoll denken, sich an Recht und Gesetz halten, aufpassen, dass nicht Leute an Laternen aufgeknüpft werden. Jemand wie du muss ganz vorn stehen.“

Ganz vorn stehen bedeutete, vor sich Menschenmassen zu haben. Aussagesätze zu fällen. Subjekt, Prädikat, Objekt, Punkt. Vor einer Rede auf dem Erfurter Domplatz war Lothar de Maizière drei Tage krank. Bei der Regierungserklärung schlackerten seine Hosenbeine.

Angela Merkel war seine Regierungssprecherin. Sie trug einen weiten Rock mit Gummizug und Jesuslatschen, als er sie einstellte. Er nahm sie mit auf Reisen durch Europa und nach Amerika. Es war ihm unangenehm, ihr zu sagen, dass ihr alter Mantel irgendwie nicht zu diesen Reisen passte. Er druckste rum. Am nächsten Tag erschien sie neu eingekleidet.

„Sie war nicht pikiert und absolut schnörkellos“, sagt Lothar de Maizière. Sie wurde rot, als er den neuen Mantel lobte, und ging wieder an die Arbeit. Sie waren ein gutes Team. „Wie in der Wissenschaft hat sie die Probleme, die sich vor uns auftaten, formallogisch bedacht und komplizierte Sachverhalte geschickt gestrafft.“

Anders als ihr Chef hatte die Regierungssprecherin stets im Hinterkopf, in welcher Lage sie sich beide befanden: mitten in knallharter Politik. Sie ist in Interviews geplatzt und hat den Ministerpräsidenten beiseite genommen, wenn er gar zu offenherzig plauderte.

Der Politiker de Maizière hatte keinen funktionierenden Beamtenapparat, keine Erfahrungen und in kürzester Zeit ein beispielloses Amt zu erledigen. „Unsere einzige Aufgabe ist, uns überflüssig zu machen“, hat er zu Mitarbeitern und Ministern gesagt. Es stimmt nicht, dass er damals nichts zu Lachen hatte. Er fühlte sich verantwortlich. Er hat mit den Siegermächten verhandelt und am Einigungsvertrag gearbeitet. Er hat gespürt, welche Macht jedes seiner Worte hatte und wie die Dinge sich bewegten, wenn er sie nur antippte. Sein Glücksgefühl kam aus der Ernsthaftigkeit dieser Zeit. Und er brauchte nur in die eigenen Reihen zu schauen, um zu sehen, dass diese Zeit bald vorbei sein würde.

Einigen machte es viel mehr Spaß zu regieren, als sich aufzulösen. Verteidigungsminister Rainer Eppelmann fuhr in einem fort die Truppe besichtigen. Außenminister Markus Meckel handelte für die DDR Entwicklungshilfe bis ins Jahr 2005 aus. Eines Tages erfuhr der Regierungschef, dass Bild seine Minister zu einer Kreuzfahrt auf eine Yacht geladen hatte. Und dass zugesagt worden war. Lothar de Maizière war nicht unter den Geladenen und auch nicht Regine Hildebrandt. Er hat die Zeitung angerufen und im Namen der DDR storniert.

Angela Merkel hat gerackert bis zum Umfallen. „Sie war belastbar ohne Ende“, sagt er. Als CDU Ost und West zusammengingen, haben sie gemeinsam getestet, wie es ist, wiedervereinigt zu werden. Merkel sollte bald Kohls „Mädchen“ sein.

Lothar de Maizière konnte sich in der Comicserie „Hurra Deutschland“ im Fernsehen sehen. Kaum steckte er den Kopf ins Bild, verpasste ihm Kanzler Kohl donnernde Backpfeifen. Am Abend des 2. Oktober 1990 hat er die DDR aus der Weltgeschichte verabschiedet. Hat von einem „Stück gelebter Geschichte“ gesprochen, davon, dass man sich selbst nicht um Mitternacht einfach los wird. Im Osten hat man ihm danach gesagt, er habe der DDR auf den letzten Metern eine Würde gegeben. Im Westen wurde er zum Ebenbild der deutschen Einheit. Es entstanden die Fotos im breiten Rücken des Helmut Kohl. „Man wollte mich als Ritter von trauriger Gestalt“, sagt Lothar de Maizière.

Er ist von der Bundesrepublik übernommen worden und ins Bonner Parlament gekommen. „Meine Meinung interessierte nicht“, sagt er. „Ich selbst stand im politischen Geschäft herum wie ein Palmenkübel.“ Die ihn beobachteten, meinten, er sehne sich nach einem höheren Posten. Dabei hat er in Bonn jegliche Ambitionen auf Politik ganz schnell wieder verloren.

Er wurde stellvertretender CDU-Vorsitzender. Er hat gefragt: „Was sind denn da so meine Aufgaben?“ Kohl hat nicht geantwortet, denn er wollte lieber alles allein machen. Lothar de Maizière schlief schlecht, aber nicht wegen der CDU. Ihn bewegten wichtige Dinge, noch jahrelang. „Nacht für Nacht habe ich in meinen Träumen den Einigungsvertrag verhandelt“, sagt er. „Nacht für Nacht habe ich mich gefragt: Hab ich was vergessen?“

Michail Gorbatschow hat gesagt, die Bodenreform sei keine Forderung der Sowjetunion gewesen. Das war in Göttingen, Jahre nach der DDR. Es juckte niemanden mehr. Doch Lothar de Maizière hat im Spiegel erklärt, das sei nicht die Wahrheit. Danach hat man ihn wissen lassen, er solle Gorbatschow nicht mehr unter die Augen treten.

Helmut Kohl wollte Sabine Bergmann-Pohl zur Ministerin machen. Lothar de Maizière wollte, dass der Osten sich nicht blamiert. Er schlug Angela Merkel vor. Als sie dann Frauenministerin war, hat er sie angesprochen: „Im Grundgesetz steht, dass Männer und Frauen gleichberechtigt sind. Denk dir mal einen Passus aus, in dem es in etwa heißt, dass der Staat alles in Bewegung setzt, damit dies auch Realität wird.“ Die Antwort war so deutlich wie sich die Zeiten geändert hatten: „Mit so einer Formulierung diffamierst du das Grundgesetz. Damit erkennst du die Schwächen von vornherein an.“

In Wahrheit ist das „Mädchen“ von Helmut Kohl das Mädchen von Lothar de Maizière. Der dicke Kanzler hat ihr die Chance zum politischen Aufstieg in der Bundesrepublik gegeben. Mit dem schmächtigen Anwalt jedoch verbindet sie die Erfahrung, über sich hinauszuwachsen, um politisch etwas zu bewegen. Im Einigungsvertrag hatte de Maizière festgehalten, dass die Regelung der DDR zum Schwangerschaftsabbruch für die Ostdeutschen noch zwei Jahre weiter gilt, und man sich dann etwas Neues ausdenkt, denn die Ostfrauen sollten keinesfalls auf den Paragrafen 218 zurückfallen.

Als die Zeit da war, hat er die Frauenministerin Merkel ermahnt: „Leg was vor!“ Das hat sie getan. Bei der Bundestagsabstimmung saß er vor dem Fernseher in Berlin. Er fühlte sich gut, letztlich war es sein Erfolg. Dann stockte ihm der Atem. Merkel enthielt sich der Stimme.

Ende August fährt er für ihren Wahlkampf nach Senftenberg. Die CDU ist 60 Jahre alt geworden, er soll vor Parteifreunden sprechen. An der Tankstelle hält er, um eine Zeitung zu kaufen, in der Richard Schröder einen Text geschrieben hat: „Was ist los im Osten?“ Lothar de Maizière wüsste das auch gern. Auch Angela Merkel ist gekommen. Ihre Rede liegt in seiner Tasche. „Sie hat mich vor der gesamten Front gelobt“, sagt er. Er klopft sich selbst auf die Schulter wie einer, der in sicherer Entfernung zu dem Ministerpräsidenten, der er mal war, seine Witzchen macht. Er lässt das Fenster runter, um nach dem Weg zu fragen.

„Oh, der Herr de Maizière ist schon da!“, rufen die Leute. Sie treten an die Wagentür und halten ihm den Regenschirm. „Meine Untertanen lieben mich immer noch“, raunt er.

Im Kulturhaus probt das Senftenberger Kammerorchester. Der Frau mit der Bratsche ist mulmig, weil Lothar de Maizière ihr Instrument beherrscht. Er lauscht im Vorraum, ob sie den Kammerton A trifft. Er mag es immer noch nicht, vor vielen Leuten zu sprechen. Er lobt Helmut Kohl für sein Streben nach der deutschen Einheit. Er sagt, eine ostdeutsche Kanzlerin solle die Einheit jetzt vollenden. Unter anhaltendem Applaus bleibt er lange vor seinem Stuhl in der ersten Reihe stehen. Es ist sein Applaus. Er steht etwas gebückt wie auf den Fotos von 1990, er ist hier, um den Applaus Angela Merkel zu schenken.

Was, wenn sie ihn am 18. September fragt, ob er in der Regierung mitmacht? Er sitzt im Auto zurück nach Berlin und lacht und lacht. „Das fragt sie nicht“, sagt er. Sie ist von da, wo auch er herkommt. Sie kann ihn verstehen.