piwik no script img

Archiv-Artikel

Die Ampel leuchtet

Chance für Machiavellisten: Schröder darf dranbleiben, die FDP wieder ran, die Grünen dürfen das Schlimmste verhüten

VON FRANZ WALTER

So ist das in Wahlkämpfen: Es wird gern und reichlich spekuliert. Journalisten vor allem lieben das Spielchen mit den verschiedenen Koalitionsvarianten. Aber auch die instinktsicheren Machiavellisten unter den Politikern in Berlin – von denen es bedauerlicherweise so viele gar nicht mehr gibt – schätzen stärker die überraschenden Rochaden als die festen historischen Bündnisse. Und so raunt man nun in Berlin-Mitte lustvoll über Koalitionsmodelle diesseits von Schwarz-Gelb oder Rot-Grün. Die Profis gehen überwiegend – und im Ganzen wohl auch berechtigt – von einer künftigen großen Koalition aus. Doch plötzlich haben diejenigen, die in der Schule beim Rechnen aufgepasst haben, festgestellt, dass es arithmetisch möglicherweise auch für eine andere Addition reichen könnte: Rot plus Gelb plus Grün – in der Summe also: für die Ampel.

Die Parteien selbst hüllen sich überwiegend in Schweigen. Und man kann sich auch nicht einfach vorstellen, wie eine solche Allianz denn funktionieren soll. Schließlich ist Westerwelle ein Lieblingsfeind der sozialdemokratischen Parteisoldaten und ökologischen Aktivisten. Und umgekehrt verfolgt der FDP-Chef seit seinen Juli-Zeiten die Mission, die Grünen als Irrtum der Geschichte zu entlarven und in den Orkus der Überflüssigkeit zu versenken. Doch gibt es da einen Mann, der am Abend des 18. September – sollte er weiter der Alte geblieben sein, so wie wir ihn unzählige Male erlebt und insgeheim bewundert haben – in der Tat für eine deftige Überraschung sorgen könnte: Gerhard Schröder. Denn als Kanzler überleben, ja triumphieren kann er einzig und allein in dieser rot-grün-gelben Konstellation. Und ein bisschen ist immer noch schwer vorstellbar, dass Gerhard Schröder – sollte Schwarz-Gelb ebenso wie Rot-Grün keine Mehrheit erhalten, die SPD sich aber unter seiner von allen Beobachtern gelobten kraftvollen Wahlkampfführung ganz nahe an die Union heranrobben – demütig vor die Mikrofone tritt, mit traurigen Augen seine Niederlage eingesteht, um sich sodann nach Hannover zu Frau und Kindern zurückzuziehen und das Feld allein den Münteferings und Steinbrücks zu überlassen. In einem solchen Fall wäre Schröder in der Tat nicht mehr der Alte.

Der Abend könnte also anders ablaufen, als ihn viele derzeit noch antizipieren. Versuchen wir ein realistischen Szenarium: Als Erstes wird wahrscheinlich ein Freidemokrat aus der zweiten Reihe, sagen wir: der gerissene Herr Kubicki aus Schleswig-Holstein, gegen 19 Uhr, daran erinnern, dass das Wahlergebnis selbstverständlich auch weitere Koalitionsalternativen diesseits einer Elefantenhochzeit zwischen den beiden Volksparteien zulässt. Zugleich werden dann einige der in sieben harten Regierungsjahren gestählten Strategen aus der Entourage des Kanzlers Kontakt mit den FDP-Granden aufnehmen, die biografisch lediglich über die eine Chance noch verfügen, an der Regierungsmacht zu partizipieren, wenn sie jetzt beherzt zugreifen. Rainer Brüderle wird an diesem Abend allen erzählen, wie gut er doch seit Jahren schon mit den „Sozis“ kann, und wird dabei, wann immer möglich, strahlend die Nähe zu seinem Ministerpräsidenten Kurt Beck suchen, der sich in der ungewohnten Rolle eines überaus wichtigen Koalitionsbildners auch durchaus gefallen dürfte.

Fehlen nur noch die Grünen. Aber auch die werden sich gewohnt opportunistisch auf die neue Situation einstellen und alle Schwüre, mit den sozialkalten „Neoliberalen“ niemals anzubändeln, blitzschnell vergessen. Denn gerade ihnen ist klar, dass andernfalls das letzte Stückchen Macht perdu ist. Und so werden ihre pausbäckigen Parteisprecher vor laufenden Kameras staatsmännisch und dabei doch gut grün erklären, dass jetzt alles darauf ankomme, die große Koalition der Reformblockierer zu verhindern, die demokratische Kultur vor dem Mehltau und das Land vor dem Erstarken des rechten extremistischen Randes zu schützen. Kurzum: In dieser Konstellation würde Schröder erneut Kanzler, auch wenn er abgeschlagen als Zweiter durchs Ziel kommen sollte. Der christdemokratische Sieger dagegen wäre dann unversehens zum kläglichen Loser im machtpolitischen Wettbewerb abgestürzt. Frau Merkel, der im frühen Sommer noch von allerlei Edelfedern der Republik Donnerstag für Donnerstag seltsam devot gehuldigt wurde, wäre künftig nicht mehr als eine hinterbänklerische Abgeordnete aus dem Wahlkreis Stralsund-Rügen. Und dies alles sollte einem Politiker wie Schröder mit seinem vitalistischen Machtinstinkt und seiner virulenten Spielernatur nicht reizen? Schröder wäre schließlich klar der Gewinner in diesem Poker. Denn auf den Kanzler käme es in einer solch schwierigen Bündniskonstellation zuallererst und mehr noch also sonst an. Denn je heterogener eine Allianz, desto stärker und unabhängiger ist die Führungsposition des Regierungschefs – auch und gerade gegenüber seiner eigenen Partei.

Doch neben all diesen taktischen Winkelzügen mag auch gesellschaftlich einiges für ein solches Bündnis sprechen. Denn die bisherigen Koalitionen waren lediglich darauf angelegt, die Binnenintegration der jeweiligen Lager herzustellen. Schwarz-Gelb einte das bürgerliche, Rot-Grün das sozialökologische Lager der Republik. Komplementäre gesellschaftliche Energien und Kräfte konnten so nicht gebündelt werden. Eben das aber steht dringend an. Und deshalb wäre auch eine lagerübergreifende Koalition – ginge es nach dem Verfasser: dann allerdings gleich die große Koalition – für den Rest des Jahrzehnts außerordentlich wünschenswert. Für die allseits postulierte gesellschaftliche und ökonomische Innovation brauchen die bisherigen Regierungsparteien zusätzlich zumindest Teile des gewerblichen Bürgertums, die es aber weder bei den Roten noch den Grünen hinreichend gibt und die durch eine stattliche Zahl von Gleichstellungsbeauftragten, Studienräten, Sozialarbeitern, gelernten Fraktionsassistenten leider nicht ganz gleichwertig zu ersetzen sind.

Das nun bringt die Freien Demokraten – wenn es denn aufgrund des Eigeninteresses Schröders zu einer im Prinzip fälligen großen Koalition nicht kommen sollte – ins Spiel. Ihr Wähleranhang ist zwar in der Tat nicht sonderlich üppig, aber ihr Draht zu den wirtschaftlichen Eliten ist einigermaßen intakt. Und die ökonomischen Führungsgruppen des Jahres 2005 sind keine sentimentalen Deutschnationalen wie das Bürgertum der 50er- und 60er-Jahre. Die wirtschaftlichen Eliten von heute werden sich nicht empört über den politischen Verrat von den Freien Demokraten abwenden, sondern kühl-kalkulierend ihre Beziehungen zu den Liberalen ausbauen. Die FDP in der Regierung wird wichtiger als die CDU in der Opposition. Darüber hinaus: eine Regierungsbeteiligung der Freien Demokraten könnte im deutschen Mittelstand die merkwürdigerweise immer noch tief sitzenden Ressentiments gegen Rote und Grüne ein wenig abbauen. Die Ampelkoalition wäre mithin ein Bündnis von gewerkschaftlichen Arbeitern, postmaterialistischen Dienstleistern und besitzständigem Honoratiorentum – gewiss sehr schwierig, sicher sehr heterogen, aber möglicherweise besser als die Blockade der beiden Großlager, die wir nun seit Jahren schon erdulden; und besser wohl auch als Grüne und Rote in der Opposition, die dort verbalradikal lärmend ihre eigene Politik der letzten Jahre desavouieren.

Ohne Zweifel, die Union wäre der große Verlierer einer solchen Entwicklung. Das bürgerliche Lager wäre vorerst zerrissen. Die große Partei dieses Lagers wäre in der Opposition, ohne Juniorpartner und Macht im Bund. Angesichts einer solchen für ihn unzweifelhaft verlockenden Perspektive sollte sich Schröder am Wahlabend sang- und klanglos in seine niedersächsische Provinz zurückziehen? Für dergleichen machiavellistische Genüsse ist er schließlich recht eigentlich in die Politik gegangen. Die Bühne für den großen Machiavellisten ist jedenfalls bereitet.