: Gute Orte, böse Orte
Soziale Stadtführungen zeigen die Perspektive wohnungsloser Menschen und kämpfen gegen Vorurteile
Die Begriffe Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit werden oft gleichgesetzt – zu Unrecht.
Wohnungslos sind Menschen, die über keinen mietvertraglich abgesicherten Wohnraum verfügen. Sie übernachten in einer Notunterkunft oder bei Freunden und Bekannten, besonders Frauen.
Obdachlos sind Menschen, die keinen festen Wohnsitz und keine Unterkunft haben. Sie machen dann „Platte“. (epd)
Früher war das Gebüsch in den Wallanlagen ein guter Ort für Obdachlose. In den Sträuchern konnten sie ihr Gepäck verstecken und unter dem dichten Blätterdach schlafen. „Das ist vorbei“, sagt Harald Barzen. „Hier ist Gerd gestorben. Damit das nicht noch mal passiert, hat die Stadt die Büsche kappen lassen. Unter Polizeischutz.“
Jetzt sei es ein böser Ort, sagt Barzen, der selbst keine Wohnung hat. Zusammen mit Obdachlosen-Seelsorger Harald Schröder leitet er eine soziale Stadtführung, die zu Orten führt, die für Obdachlose wichtig sind: Schlafstellen, Gepäcklager, Bettelplätze. Aber auch zu den Arkaden am Marktplatz. Dort werden manchmal Bettelbecher „aus Versehen“ weggekickt und Bettelnde getreten. „Hier werden wir immer wieder vertrieben“, sagt Barzen: „Der Anblick von Armut an dieser Stelle ist nicht erwünscht.“
Solche sozialen Stadtführungen gibt es mittlerweile in vielen Städten. Bei Barzens Rundgang trifft die Gruppe auf leere Schlafplätze. „Parkbänke, auf denen man sich mal ausruhen könnte, gibt es kaum“, sagt der 65-Jährige. Es hat fast den Anschein einer versteckten Welt, in die er da einführt. Beispielsweise beim Blick in eine überdachte Straße, die zu zwei Garagen führt. Ein lärmiger Ort, der bei Geschäftsbetrieb nach Abgasen stinkt. „Aber wichtig für uns“, meint Barzen. „Hier steppt nach Mitternacht der Bär, an vielen Stellen wird übernachtet.“
Eine offizielle Statistik zur Zahl der Wohnungslosen gibt es nicht. 2014 waren es bundesweit etwa 335.000, schätzen Experten. Bis 2018 könnte ihre Zahl auf mehr als eine halbe Million steigen. Allein in Bremen seien es etwa 600, sagt die Wohnungslosenhilfe des Vereins für Innere Mission. Betroffen seien zunehmend Jüngere sowie Menschen aus Südosteuropa. Respekt vor der Überlebensleistung von Menschen in extrem desolaten Verhältnissen zu wecken, das sei eine Chance solcher Führungen, sagt der Hildesheimer Sozialwissenschaftler Udo Wilken.
Auch Reinhard „Cäsar“ Spöring, ehrenamtlicher Mitarbeiter der Bremer Zeitschrift der Straße, organisiert soziale Stadtführungen. Ihm gehe es darum, über Hilfestrukturen zu informieren. Und so führt er Schulklassen durch das Bahnhofsviertel. Dort ist das Elend zu Hause, aber es gibt auch Notquartiere, Beratung, ein warmes Mittagessen – und in der Bahnhofsmission oder im „Café Papagei“ Wärme auf Zeit. Diesmal ist Cäsar mit Achtklässlern unterwegs. Und zeigt ihnen Dinge, die für viele selbstverständlich sind. „Zum Beispiel, dass wir im Café Papagei 400 Postadressen eingerichtet haben“, sagt er.
Auch auf andere Fragen finden die Schüler erst mit dem Rundgang Antworten. Etwa, wo ein warmer Schafsack herkommen könnte. Wo es eine Duschgelegenheit gibt, ein Bett für ein paar Nächte, wenn man krank ist. Frische Kleidung. Oder wo es Trinkwasserbrunnen gibt. „Davon haben wir in Bremen genauso wie kostenlose öffentliche Toiletten viel zu wenige“, kritisiert Schröder.
Der Rundgang habe sie nachdenklich gemacht, sagt die Schülerin Maike. „Mir war jahrelang egal, wie es anderen geht. Ich bin froh, dass ich nun anders denke.“ Verena ergänzt: „Ich bin sonst immer an solchen Menschen vorbeigegangen. Nun wohl nicht mehr.“ (epd)
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