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Störche im Angriffsmodus

Der Erfolg der Fußballer von Holstein Kiel begeistert im Norden. Sie sind bester Aufsteiger der Zweitliga-Geschichte. Manch ein Fan träumt schon vom Aufstieg. Das alte Holsteinstadion ist dabei die größte Hürde

Von Andreas Geidel

Wer dieser Tage Kiel besucht und sich für Spitzensport interessiert, der wird sich wundern. In der Handball-Hauptstadt dominieren anstelle der Asse vom Rekordmeister THW die Fußballer die Tagesgespräche: Acht Siege in den vergangenen neun Spielen, treffsicherster Angriff, Tabellenplatz zwei – Holstein Kiel, bester Aufsteiger in der Geschichte der Zweiten Bundesliga.

Neu, atemberaubend attraktive Spielweise, sexy – das Kartenkontingent von knapp 10.000 Tickets pro Heimspiel ist bis Weihnachten vergriffen. Das für die Punktspiele zu Saisonbeginn geplante, aber von der Deutschen Fußball Liga (DFL) nicht genehmigte Trikot mit der Seekarte der Kieler Förde von 1900 auf der Vorderseite ist aktuell heiße Ware an der Ostsee. Denn für das Pokalspiel der Kieler am Dienstag beim Bundesligisten Mainz 05 hat der Deutsche Fußball-Bund (DFB) eine Sondergenehmigung erteilt. Analog zum Geburtsjahr der „Störche“ hat der Trikotausrüster „Puma“ eine auf 1900 Stück limitierte Auflage des Shirts angefertigt. Am ersten Verkaufstag brach der Online-Shop ob der zu starken Anfrage zusammen.

Ein Vormittagstraining der Kieler hingegen vermittelt das genaue Gegenteil eines Hypes. Vier, manchmal fünf Kiebitze beobachten das Treiben im erstligareifen Trainingszentrum. Sie sprechen die Profis vor der Arbeit an, an Spieler-Geburtstagen gibt’s schon mal einen selbstgebackenen Kuchen. Nur selten TV-Kameras, kaum Journalisten, kein Boulevard. Die familiäre Atmosphäre ist ein Geheimnis des Erfolges.

Das bestätigt auch Zweitliga-Top-Torjäger Marvin Ducksch: „Die Stadt, die Fans, der Verein, das Trainerteam und die Jungs aus der Mannschaft – ich habe mich sehr, sehr lange nicht mehr so wohlgefühlt wie hier.“ Ducksch hat Holstein im Mai zum Aufstieg geschossen. Die bislang neun Treffer in dieser Serie lassen kühnste Träume reifen, von denen allerdings niemand offiziell etwas wissen will. Beim Bäcker nebenan hört der gebürtige Dortmunder, der vom FC St. Pauli bis zum 30. Juni 2018 ausgeliehen ist, aufmunternde Worte. In Ehrfurcht erstarrt niemand. Typisch norddeutsche Mentalität halt.

Der Kern der Mannschaft ist nach dem Ende der 36-jährigen Abstinenz vom Bundesliga-Unterhaus zusammengeblieben. Die Eingespieltheit ist ein weiteres, eminent wichtiges Detail des Höhenfluges. Kapitän und Abwehrchef Rafael Czichos (27) dirigiert die Deckung, der 33-jährige Dominic Peitz räumt im defensiven Mittelfeld ab und Zweitliga-Top-Scorer Dominick Drexler (27) führt dank genialer Technik Regie in der Offensive – wie schon in Liga drei.

Über allem aber schwebt Erfolgstrainer Markus Anfang. Im August 2016 folgte der 43-Jährige Kölner dem glücklosen Karsten Neitzel. 14 Monate später wollen die Kieler dem ehemaligen Bundesliga-Profi am liebsten ein Denkmal bauen. Unbedingter Teamgeist mit Freiraum für Individualität, defensive Disziplin, gepaart mit der Aufforderung, jede Möglichkeit zur Offensive zu nutzen – Anfang, der akribisch arbeitende Fußball-Feingeist, die rheinische Frohnatur, steht für den Beginn einer neuen Kieler Leidenschaft. Er lebt seine Maxime zwischen Demut vor dem Gegner und ausgeprägtem Selbstbewusstsein.

Dem Champagner-Fußball beim 3:0 gegen Bochum folgte zuletzt beim 5:3 in Heidenheim ein echter, vor Moral strotzender Acht-Tore-Auswärtswahnsinn. Doch am Sonnabend beim 2:1-Arbeitssieg gegen Arminia Bielefeld zeigte Holstein ein neues, bislang nicht bekanntes Gesicht: Die Störche können auch kämpfen! Oder in den Worten Duckschs, der das 1:0 selbst erzielte und das 2:0 durch Steven Lewerenz auflegte: „Unsere konstanten Leistungen resultieren nicht aus der Aufstiegs-Euphorie, sondern aus der Qualität der Mannschaft.“

Kiel feiert, die Konkurrenz staunt. Nur 15 Zähler fehlen noch bis zur magischen 40-Punkte-Grenze, die allgemein gültig für Klassenerhalt steht. Und dies nach elf Spieltagen!

So sorgt die Menschen in Kiel nur eine Vorstellung: Was passiert, wenn das Wunder, der Durchmarsch in Liga eins, wirklich passiert? Wo, bitteschön, sollen die Störche dann spielen? Denn für das altehrwürdige Holsteinstadion benötigten die Verantwortlichen, ansonsten mit hochprofessionellen Strukturen und einer vergleichsweise sehr guten wirtschaftlichen Basis ausgestattet, schon eine Sondererlaubnis der DFL. Für den erforderlichen Neubau der Gästekurve wird als Termin der März oder der April veranschlagt. Oder der Mai. Wegen der über 50-prozentigen Beteiligung von Stadt und Land an den Kosten in Höhe von 10,4 Millionen Euro bedarf es einer europaweiten Ausschreibung. Die ist noch nicht abgeschlossen. Daran können weder Anfang noch Ducksch etwas ändern.

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