Esther Slevogt betrachtet das Treiben auf Berlins Bühnen:
Der Regisseur und Internetforscher Arne Vogelgesang sammelt Extremisten wie andere Leute Schmetterlinge. Mit der Obsession eines echten Sammlers durchstreift er die abgründigsten Dschungel des Internets, rudert furchtlos durch die reißenden Ströme der Videokanälen und piekst auf, was ihm unterwegs begegnet. Junge Islamisten, die in Konfirmandenanzug und mit Mittelscheitel wie Hamlet vor einem roten Vorhang stehend die Deutschen zur Umkehr mahnen, alte Deutsche, die vor dem Badezimmerspiegel rechtsradikale Reden halten, Paramilitaristen, die in Wäldern für den Ernstfall proben, was immer sie darunter verstehen. Alle Videos, die Vogelgesang auf seinen Reisen durchs WWW als bemerkenswert auswählt, werden thematisch kategorisiert und dann zu wundersamen wie eigenen Theaterabenden oder Lecture-Performances zusammengestellt, in denen Vogelgesang und das Theaterkollektiv „Internil“ dann an Orten wie der Vierten Welt oder dem Theaterdiscounter staunendem Publikum Einblicke in sinistre wie aberwitzige politische Landschaften gewährt – und jenen Untergrund plötzlich erfahrbar macht, den wir schon lange von Weitem beunruhigend rumoren hören. Nun plötzlich können wir Gesichter schauen. „Staatenlos“ heißt der neue Abend von Internil und Arne Vogelgesang und er beschäftigt sich nicht etwa mit Geflüchteten oder anderweitig heimat- und staatenlos Geworden. Thema sind jene Bürger, die in der Regel deutsche Pässe und Wohnsitze haben, aber dennoch der Meinung sind, dieses Land ist Fake. Manche dieser gefühlten Staatenlosen nennen sich „Reichsbürger“ andere anders. Aus sozialen Netzwerken und Videokanälen hat Vogelgesang ihre Erzählungen und Selbstdarstellungen gefischt (Theaterdiscounter: „Staatenlos“, 13., 14., 16. & 17. 10., jeweils 19 Uhr).
Vor Kurzem starb viel zu früh der Schauspieler und Regisseur Andreas Schmidt. Vor 20 Jahren, da war er Mitte zwanzig, inszenierte Schmidt in der Charlottenburger Vagantenbühne „Shakespeares sämtliche Werke“,und zwar in 90 Minuten. Auf der Bühne tickt eine Uhr. Der Lauf gegen die Zeit beginnt. Von „Lear“ über „Sommernachtstraum“, „Romeo und Julia“ bis „Hamlet“ kommt alles auf die Bretter, was Shakespeare je geschrieben hat. Die rasende Comedy für 4 Schauspieler ist immer noch ein Publikumsrenner. Zu Ehren von Schmidt und zur Feier des sensationellen Jubiläums wird die 1.408. Vorstellung eine Benefiz-Vorstellung: der gesamte Erlös aus den Kartenverkäufen geht an die Bahnhofsmission im benachbarten Bahnhof Zoo (Vagantenbühne: „Shakespeares sämtliche Werke“, 19. 10., 20 Uhr).
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