Katrin Seddig Fremd und befremdlich: Nach dem Sturm werden Schuldige gesucht: die Bahn zum Beispiel, oder doch die Grünen?
Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr neuer Roman „Das Dorf“ ist kürzlich bei Rowohlt Berlin erschienen.
Es gab also vorige Woche im Norden einen Sturm. Ich verbrachte die meiste Zeit in meiner Wohnung unter dem Dach. Immer wieder stand ich auf und sah auf die Stadt, in der die Äste hinunterkrachten, in der der Regen wütend auf die Straßen schlug. Ein Unwetter ist faszinierend. Es hat eine Kraft, die aus der Natur kommt und vom Menschen, der die Natur zu beherrschen sucht, nicht zu beherrschen ist. „Der Sturm hat empfindliche Schäden angerichtet“, heißt es dann. Vor allem sind Bäume auf Dinge gefallen, auf Dächer, Autos, Bahngleise und es sind Menschen ums Leben gekommen.
Wenn man selber am Leben geblieben ist, ist man dankbar und froh oder man regt sich über die Bahn auf. Denn die Bahn fuhr im Norden nach „Xavier“ nur noch vereinzelt. Oder die Bahn fuhr auf vielen Strecken im Norden gar nicht mehr. Denn der Sturm warf nicht nur Bäume auf die Gleise und Oberleitungen, er knickte auch Oberleitungsmasten um oder löste gleich die Fundamente. Björn Gryschka, Vositzender des Fahrgastverbands Pro Bahn in Niedersaschsen, sieht in diesem Baum-auf-die-Gleise-Fallen jedenfalls einen Fehler im System. Die Bäume sollten an den Gleisen abgesägt werden, oder kurz gehalten.
Vielleicht ist das eine Lösung? Sehr kurze oder gar keine Bäume? Oder liegt es wirklich an, zum Beispiel, der Deutschen Bahn AG, dass die Züge nicht fahren? Die Deutsche Bundesbahn fuhr immer, behauptet einer. Früher war alles besser. Ich weiß das auch noch. In der DDR war auch alles besser als in der Bundesrepublik, aber das erst jetzt, früher, als es die DDR noch gab, war es umgedreht. Aber nun ist es so gewesen, dass Menschen tatsächlich lange, sehr lange, an Bahnhöfen ausharren mussten. Das lag am Ausmaß der Störungen. Mehr als fünfhundert Beschädigungen auf 1.000 Streckenkilometern soll es gegeben haben. Hätte das die Deutsche Bundesbahn rascher erledigen können als die Deutsche Bahn AG?
Jeder, der regelmäßig Bahn fährt, kennt dieses Gefühl, dieses Bangen, ob alles gut gehen, ob der Zug nicht verspätet sein, ob man den Anschlusszug bekommen wird. Und dann gibt es diese Facebook-Posts von den Freunden, die plötzlich ganz viel Zeit haben und vorgeben, mit einem gewissen Humor eine Situation zu meistern, in der sie etwas Witziges schreiben können, über den verpassten Zug, den unfreiwilligen Aufenthalt auf einem Bahnhof, wieder einmal, aber sie sind frustriert.
Wir sind frustriert, wenn die Dinge nicht so klappen, wie wir das geplant haben. Wenn wir doch aber sogar dafür bezahlt haben. Wir wollen nicht warten. Wir haben keine Zeit. Und wenn wir irgendwo hinwollen, und plötzlich geht das nicht mehr, nicht einmal verspätet, sondern überhaupt nicht mehr, dann stehen wir da, ein bisschen verloren, ein bisschen verzweifelt.
Ich verstehe dieses Gefühl, ich bin ein Mensch, der dann sehr verzweifelt ist, wenn etwas, das er geplant hat, nicht klappt. Aber was ist das denn? Warum können wir hier, vor allem in Deutschland, dermaßen schlecht damit umgehen, dass die Umstände unsere Pläne zunichte machen? Ein Sturm zum Beispiel. Warum brauchen wir einen Schuldigen? Die Bahn zum Beispiel. Und die Grünen noch dazu, die immer irgendwie schuldig sein sollen, wenn Bäume nicht abgesägt werden konnten.
Warum sind wir persönlich beleidigt, wenn die Umstände auch gar nichts mit uns zu tun haben, denn ein Sturm hat nichts gegen uns? Warum können wir uns nicht demütiger in diese Umstände hineinfinden, und ich meine wirklich demütig, denn wir leben noch, unsere Familien leben noch, unsere Häuser sind nicht vom Erdbeben zerstört oder in den Fluten versunken. Alles, was wir verlieren, ist Zeit. Und wir verlieren sie nicht einmal. Wir leben ja auch in der Zeit, in der wir mit anderen Menschen in einem Bahnhof warten.
Es gab also einen Sturm. Wir müssen uns dem beugen, vielleicht in einem Bahnhof. Es gibt Dinge, die sind stärker als wir. Das ist unangenehm, nervig, und ich weiß – wir haben keine Zeit – aber Schuld hat niemand, und eine Katastrophe ist es auch nicht.
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