: Erinnerung im Kästchen
STADTTEILE Geschichtswerkstätten bieten Anwohnern den Blick auf historische Strukturen ihres Viertels. Entstanden sind sie aus einer Bürgerbewegung der 70er Jahre
VON FRAUKE FRANKENSTEIN
Manchmal sind es Dinge wie ein Metallkästchen, die ein Schlaglicht auf Dieter Thieles Arbeit werfen. Ein Kästchen, das das Unausgesprochene in einer Familie im Hamburger Stadtteil Barmbek symbolisiert. Der Stadtteilforscher sitzt am Tisch der Geschichtswerkstatt Barmbek, eines von 17 Stadtteilarchiven dieser Art in Hamburg, die diese Woche mit einer öffentlichen Aktion auf dem Rathausmarkt auf ihre Arbeit aufmerksam machten.
Das Mobiliar ist spartanisch. Wichtiger sind die Bücher und Schriftstücke, die Fotos und Bildtafeln. Und, im Nebenzimmer der ehemaligen Konditorei Ecke Wiesendamm / Hufnerstraße, die Handwerkzeuge, die zur anschaulichen Darstellung von Barmbeker Alltagsexistenzen führen: Tonbandgeräte, Fotokameras, Computer.
„Die Geschichte mit dem Kästchen hat mich sehr berührt“, erinnert sich Thiele. Darin hatte eine alte Barmbeker Jüdin Dinge aufbewahrt, die von ihrer Familie übrig geblieben waren. Ihre Angehörigen waren fast alle umgebracht worden. „Sie hat das Kästchen in Gegenwart ihrer Kinder nie geöffnet“, erinnert er. „Wenn sie außer Haus war, sind die Kinder an das Kästchen gegangen. Aber sie haben nie miteinander darüber gesprochen.“
Das Unsagbare wollte die über 80-Jährige dann doch noch mitteilen, den Mitarbeitern der Geschichtswerkstatt. „Kurz vor ihrem Tod hat sie uns berichtet, was sie in der NS-Zeit erlitten hat“, erzählt Thiele. Später hätten ihre Kinder aus der Abschrift des Interviews Dinge erfahren, die ihre Mutter nie erzählte.
Viele Hamburger wissen nichts von der Arbeit der 17 Geschichtswerkstätten in der Stadt. Am Donnerstag hatten die Stadtteilarchive deshalb unter dem Titel „Wir machen Geschichte lebendig!“ mit einer Bildprojektion und Info-Ständen auf dem Rathausmarkt ihre Arbeit vorgestellt. Die ersten Werkstätten entsprangen einer Bürgerbewegung der späten 1970er Jahre, die sich der „Geschichte von unten“ annahm. „In Hamburg hatten wir das Glück, dass Kultursenator von Münch sich für unsere Arbeit interessierte und als Zweiter Bürgermeister 1990 einen eigenen Haushaltstitel für uns durchsetzte“, erinnert Thiele. Die Mittel wurden knapper, die Gunst der Regierenden wechselte. Später gegründete Stadtteilarchive arbeiten ganz ohne Förderung. Auch die Geschichtswerkstatt Barmbek muss wertmäßig mit der Hälfte des früheren Etats auskommen. Je nach finanzieller Ausstattung sind die Angebote verschieden.
Die Geschichtswerkstatt Eimsbüttel zum Beispiel bietet abendliche Vorträge zu zeitgeschichtlichen Themen. Zum Standardprogramm in jedem Viertel gehören die geführten Geschichts-Spaziergänge. Wer sich einmal für vier Euro zwei bis drei Stunden lang den Blick auf historische Strukturen hat öffnen lassen, kommt gerne wieder.
Auch der gebürtige Berliner Dieter Thiele, der in Hamburg studierte, arbeitet solche Spaziergänge für Barmbek aus. Eine Besonderheit ist der von ihm mit konzipierte „Geschichtspfad“ mit Bildtafeln, die auf Orte mit Bedeutung weisen. Zum Beispiel auf die Kranich-Skulpturen des Bildhauers Hans-Martin Ruwoldt in der Genossenschaftssiedlung Hufnerstraße.
Publikumsrenner sind die Kanalfahrten, bei denen das heutige Barmbek vom Wasser aus gezeigt und auf dem kleinen Schiff „Aue“ frühere Zustände mit Hilfe von Bildtafeln verdeutlicht werden. Regen Zulauf haben auch die literarischen Spaziergänge, die den Lebensgeschichten bekannter Barmbeker folgen: „Auf den Spuren der Bertinis“ nach dem Roman von Ralph Giordano und „Neger, Neger, Schornsteinfeger“ nach der Autobiografie des Deutsch-Liberianers Hans-Jürgen Massaquoi. Bei den übrigen Touren schwankt das Besucherinteresse. Dieter Thiele ist bei jedem Wetter gründlich vorbereitet zur Stelle. Und erlebt gelegentlich – wie neulich zur Tour „Kunst im Barmbeker Stadtraum“ –, dass sich nur eine einzelne ältere Dame einfindet.
Manchmal kommen Bürger mit Funden von Dachböden und aus Kellern ins Büro am Wiesendamm. Thiele zeigt zwei handbemalte Holzschilder aus dem ersten Hamburger Wahlkampf 1946 nach dem Krieg. Olga Brandt-Knack, einstmals Ballettmeisterin der Staatsoper, die damit für die SPD kandidierte, hatte er noch persönlich gekannt.