: Der Westen das Wasser, der Osten das Öl
LABOR So eng wie in der Linken arbeiten Ost- und Westdeutsche in keiner anderen Partei zusammen. Das hat Folgen – gerade für ihre Identität
■ Die Partei: Die Linkspartei, die aus der SED-Nachfolgepartei PDS hervorging, fusionierte 2007 mit der 2005 gegründeten WASG, der Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit zu einer neuen Partei: Die Linke. Zur WASG stießen vor allem sozialkritische SPDler und Grüne, Gewerkschafter und linke Gruppen aus dem Westen.
■ Die Identität: Die Partei Die Linke ist gezwungen, die Balance zwischen den Kulturen zu finden, die ihre Mitglieder aus dem Osten und aus dem Westen geprägt haben. Die politische Identität der Partei hängt davon ab.
■ Die Quotierung: Die Spitzengremien der Partei – Parteivorstand und Fraktionsvorsitz – sollen die Ost-West-Dynamik widerspiegeln. Ein Instrument dafür: die Ost-West-Doppelspitze. Zusätzlich steht die Quotierung nach Mann und Frau zur Debatte.
VON WALTRAUD SCHWAB
Wer Wasser und Öl mischen will, muss ordentlich schütteln. Dabei löst sich das eine im anderen aber nicht auf, es verteilt sich nur fein. In Ruhe trennen sich die Flüssigkeiten wieder, es sei denn, man gibt Emulgatoren dazu, die die fragile Mixtur fixieren. Alles ist eine Frage der Chemie. Was aber, wenn der Westen das Wasser wäre und der Osten das Öl?
Die deutsch-deutschen Himmelsrichtungen sind natürlich gemeint. Finden Sie ein Labor, in dem genau das zusammengeht: das Ostwasser im Westöl, das Westwasser im Ostöl – so lautet die Aufgabe. Und finden Sie die Emulgatoren, die aus beidem ein Drittes machen, in dem man den Osten trotzdem erkennt.
Orte wie Berlin, die einst von der DDR-Grenze durchschnitten waren, sind solche Laboratorien. Aber da verläuft es sich leicht. Bei einer Ost-West-Ehe – da geht es schon eher zur Sache. Ganz sicher aber ist die Linksfraktion im Bundestag ein Labor. Vor allem, seit sie im Jahr 2007 mit der WASG, der Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit, fusionierte. Seither müssen die Mitglieder der Linkspartei mehrfach den Ausgleich schaffen. Nicht nur zwischen Osten und Westen. Auch zwischen Ostmann und Westfrau, Westmann und Ostfrau. Zwischen demokratischem Widerstand und sozialistischer Affirmation. Vor kurzem machte Oskar Lafontaine in dem Zusammenhang Schlagzeilen, weil er für die Doppelspitzen der Linken in der Bundestagsfraktion und der Partei mehrfache Quotierung forderte. Im Klartext: eine Westfrau für Gysi, eine Ostfrau für ihn, Lafontaine. Fisch sucht Fahrrad – als wäre es so einfach. Die Frauen aus der Linkspartei haben sich ob dieses Vorschlags von einem ihrer Alpha-Männer erst mal eine zweimonatige Bedenkzeit erbeten. Das klingt pragmatisch. Ist es auch.
„Pragmatismus, das kann man von den Ostkolleginnen lernen“, sagt die Bundestagsabgeordnete der Linken Inge Höger. „Im politischen Alltag sowieso“, fügt sie hinzu. Das läge, meint die 59-jährige Herforderin, daran, dass die Ostfrauen gelernt hätten, sich in autoritären Strukturen zu bewegen. Westfrauen aus dem linken Spektrum dagegen, die sähen bei so was oft rot. Stier und Chamäleon also. Jetzt sitzen sie zusammen im Boot.
Pragmatismus ist also das erste Stichwort, bei dem sich eine aus dem Westen auf den Osten bezieht. Andere Parlamentarierinnen werden andere Stichworte nennen. Die Idee, dass die Linkspartei ein Labor ist, gefällt allen. Die Frage aber, wie der Osten sich im Westen zeigt, irritiert sie. „Weil die Frage so nicht gestellt wird“, sagt Höger. Nur ihre Fraktionskollegin Barbara Höll hat sofort eine Antwort.
Zwischen zwei Sitzungen empfängt die 51-jährige Höll in ihrem geräumigen Bundestagsbüro, das mit viel Holz und schwarzem Stoff warmen Luxus ausstrahlt. „Was wollen Sie wissen“, fragt sie und wirft einen fixierenden Blick durch die zwölf Dioptrien starke Brille. Mutig lässt sich die Philosophin aus Sachsen dann doch in die Frage nach dem Osten im Westen fallen, als wäre es Bungee-Jumping. Für den Absprung braucht man Mut. Für den Rest starke Nerven.
Höll war SED-Mitglied. Dass sie auch im Demokratischen Frauenbund der DDR war, fällt ihr jedoch zuerst ein. Und dort setzt sie bei ihrer Antwort auch an. „Im Gegensatz zu den Frauen im Westen haben wir Frauen im Osten mit großer Selbstverständlichkeit erwartet, dass Kinder und Karriere vereinbar sind“, sagt sie. Das ist nicht neu. Höll selbst hat zwei erwachsene Söhne und eine sechsjährige Tochter. Ihr entscheidender Satz kommt kurz danach: „All die jungen Frauen, die jetzt aus dem Osten abwandern in westliche Bundesländer, die bringen diese Selbstverständnis mit. Sie erwarten, dass Kinderkrippen und Kitas vorhanden sind und dass sie selbst berufstätig sein können. Auch in Bayern. Und trotz Betreuungsgeld.“
Aus der Antwort springt etwas Ungesagtes heraus: Die im Westen gern verbreitete Überzeugung, dass Frauen, die ihre Kinder in Krippen geben, „Rabenmütter“ seien, wird von den übersiedelnden Ostlerinnen ganz zivil unterwandert. „Die nehmen das Selbstverständnis, dass Kinderbetreuung eine gesellschaftliche Aufgabe ist, mit in den Westen. So verändern sie ihn.“ Der Gedanke hat Charme.
Auch für andere Errungenschaften des Ostens sieht Höll, die schon von 1990 bis 2002 für die PDS im Bundestag war und seit 2005 wieder dort ist, im Westen nun eine Renaissance. Die Polikliniken etwa kämen nun als Gesundheitszentren zurück. Und der Ärztemangel auf dem Land belebe die Idee von Gemeindeschwestern. „Im Osten“, sagt sie, „war das Zwischenmenschliche wichtig. Und – so sehr dies auch Ideologie war – die Idee von Gleichheit.“ Das zeige sich nun erneut, weil eine linke Partei wieder wählbar ist. „Für die Kriegs- und Wirtschaftswundergeneration im Westen mag es unvorstellbar sein, links zu wählen“, sagt sie. „Für die, die danach kommt, aber schon.“
Osten jetzt Avantgarde
Als reichte das nicht, fällt Höll noch etwas ein: „Es ist nicht gelungen, den Osten zu missionieren. Dass man ethische Werte setzen kann, ohne religiös gebunden zu sein, das bringt der Osten ein.“ Ihr ist die Trennung von Staat und Kirche sehr wichtig. Dann greift sie nach ihrer Tasche und den Zigaretten und zieht weiter zum nächsten Termin. Die Sekretärin, Lotti Obst heißt sie, nickt ihr nach. „Unsere Abgeordnete ist toll“, flüstert sie. Auch sie eine aus dem Osten.
Katja Kipping, eine andere Parlamentarierin der Linkspartei, die in der DDR geboren ist, findet es nicht leicht, den Osteinfluss zu benennen. Sie ist zu jung. Der Osten, den die 31-Jährige kennt, ist seit zwanzig Jahren im Werden. Auf der Suche nach einer Antwort schwankt sie zwischen alltäglichen Beobachtungen und schwerer Rhetorik.
Westlinke Ulla Jelpke
Dass man sich bei der Begrüßung die Hand gibt, das habe der Osten mitgebracht. Nun ja. Und auch, dass der Osten jetzt Avantgarde sei. Warum? „Weil er Entwicklungen früher durchmacht, die im Westen erst ankommen.“ Welche? Erwerbslosigkeit als Massenphänomen, brüchige Biografien, Altersarmut zählt sie auf. Deshalb will die Linke „Armutsfestigkeit“ gesichert wissen, wo man im Westen noch auf „Lebensstandardsicherung“ hofft.
Von der Suche nach einer Westfrau für Gysi, einer Ostfrau für Lafontaine hält Kipping übrigens nicht viel. „Diese Ost-West-Einteilung ist nicht mehr zeitgemäß.“ Kipping spricht langsam. Ihre rote Glasperlenkette und die roten Ohrringe geben ihrem Gesicht einen warmen Ton. Beim Verabschieden kramt sie in ihrer Tasche eine neue Nylonstrumpfhose hervor. „Nur die.“ Ihre jetzige hat eine Laufmasche.
Auch Caren Lay findet, dass unklar ist, wann eine Frau aus dem Westen eine Westfrau ist, und eine Frau aus dem Osten eine Ostfrau. Kurzsichtig steht die neue Bundestagsabgeordnete im Windfang einer Kneipe an der Friedrichstraße und braucht einen Augenblick, um sich zu orientieren. Sie ist aus dem Rheinland und hat Soziologie studiert in Marburg und Frankfurt. „Kaderschule der Westlinken“ nennt sie die Uni-Institute, an denen sie war. Seit zehn Jahren allerdings lebt sie in Dresden. Fünf davon war sie für die PDS im sächsischen Landtag. Davor hat sie kurz für Renate Künast von den Grünen gearbeitet, als diese Landwirtschaftsministerin war.
In Dresden hat sie Erfahrungen mit Fremdheit gemacht, erzählt die 37-Jährige. „Man benutzt die gleiche Sprache, erwartet die gleiche Kultur und stellt fest, es ist anders.“ Erst im Osten konnte sie ihre eigene Haltung als Linke aus dem Westen kritisch unter die Lupe nehmen. „Wir Westlinke sind gut darin, radikale Kritik zu üben. Beim Antworten finden sind wir schon nur noch mäßig. Und schlecht sind wir, wenn es darum geht, Bündnispartner zu suchen.“ Ohne Bündnispartner allerdings sei konstruktive Politik nicht möglich, sagt sie.
Erste Zweifel an ihrer politischen Einstellung, die sie selbst linksradikal nennt, hatte sie, als sie auf ganz konkrete Fragen keine Antworten geben konnte. „Wenn ein Hartz-IV-Empfänger zu mir kommt, dann kann ich ihn doch nicht wegschicken, weil ich den Kapitalismus für falsch halte.“ Ruhig spricht die Soziologin. Mit langen Pausen. „Oder eine Frau, die in einer Bedarfsgemeinschaft mit einem Mann lebt und deshalb kein Hartz IV kriegt, die kann ich doch nicht ignorieren, weil ich das Patriarchat ablehne.“ Ihr politisches Handeln jedenfalls sei stringenter geworden, mehr an Zielen ausgerichtet, seit sie in Dresden lebt, sagt Caren Lay. „Beim Jobcenter oder der Arge anrufen, so was hätte ich früher strikt von mir gewiesen.“
Pragmatismus, ohne sich Visionen zu verweigern, das sei die politische Kultur, die der Osten einbringt. Als Westfrau mit linksradikaler politischer Ausrichtung, die für einen Ostlandesverband nun im Bundestag sitzt, experimentiert sie damit, die beiden Seiten ins Gleichgewicht zu bringen.
Sahra Wagenknecht experimentiert auch. Die Ostlinke ist in die entgegengesetzte Himmelsrichtung gezogen. Von Marzahn nach Düsseldorf. Von der Ruhrmetropole aus ist sie nun in den Bundestag entsandt. Wagenknecht hat eine schmucklose und klassenkämpferische Sprache, mit der sie Kapitalismus und Gesellschaft analysiert. Feindbilder zeichnet sie klar. Umgekehrt allerdings wird sie, die meist schwarz gekleidet ist, geheimnisvoll, dunkel und schön wirkt, von der konservativen Presse ebenfalls ganz gern zum Feindbild erklärt. „Luxus-Leninistin“, „Demagogin“ „Champagner-Sozialistin“, „Stalinistin“ nennen die sie. Nett gemeint ist das nicht.
Quotierung nach Ost und West findet Wagenknecht gut. „Wir sind im Westen eine Interessenpartei, im Osten eine Volkspartei.“ Die Unterschiede müssten sich an der Parteispitze zeigen. Und ob Frau und Mann? „Ja, wenn man Frauen findet, die stark genug sind, um neben Lafontaine und Gysi nicht zu verschwinden“, sagt sie.
Und wie steht es mit dem Osten im Westen? Der sei, meint Wagenknecht, „dort leider auf eine Art angekommen, die niemanden freuen kann.“ Aus ihrer Sicht war der Osten die Plattform für Entindustrialisierung, Sozialabbau, Senkung von Lohnniveau und Rente. „Weil man es im Osten vormachen konnte, kann man nun im Westen nachziehen“, glaubt sie. Positiv allerdings findet sie, „dass das Nachdenken über gesellschaftliche Alternativen auch im Westen deutlicher geworden ist.“ Außerdem gefällt ihr, dass sich durch die Ost-West-Wanderbewegungen das Bild der DDR im Westen verändert. „Leute ziehen hin und her und bringen authentische Osterfahrungen mit.“ Auf die Frage, wie sie die DDR heute denn sieht, sagt Wagenknecht, dass sie ein attraktives sozialistisches System wollte und keins, das sowohl von seiner wirtschaftlichen als auch seiner politischen Kultur her Offenheit und Kreativität behinderte. Was wäre ein attraktives sozialistisches System? „Eins, das sich nicht einmauern muss, sondern so anziehend ist, dass dem Kapitalismus die Leute weglaufen.“
Sehnsucht nach Sicherheit
Parlamentarierinnen, die im Osten sozialisiert wurden wie Wagenknecht, Höll oder Kipping, gehen die Frage, wie der Osten den Westen beeinflusste, analytisch an. Frauen, die im Westen aufwuchsen, antworten persönlicher. Das gilt auch für die in Hamburg geborene Ulla Jelpke. Ihr Kampf im Westen gegen gesellschaftliche Ungerechtigkeit kommt wild daher. Frauenbewegung, Friedensbewegung, Umweltbewegung – sie war dabei.
Jetzt sitzt die schlanke Frau im Café Einstein auf dem Boulevard Unter den Linden und ihre Wildheit wirkt wie lederne Zähigkeit. Da ist eine, die beißt sich durch. Und wie sich Jelpke durchgebissen hat. Drei Ausbildungen: Friseurin, Kontoristin, Buchhändlerin. Dann jahrelang als Strafvollzugshelferin gearbeitet. Zudem war sie in den Achtzigerjahren Abgeordnete der Grün-Alternativen Liste in der Hamburger Bürgerschaft. Mit Mitte dreißig fängt sie an zu studieren. Soziologie und Volkswirtschaft. Und 1990 wird sie als Parteilose auf der Liste der PDS in den Bundestag gewählt. Mehr als 15 Jahre macht sie dort nun schon Oppositionspolitik. Innenpolitische Sprecherin der Linken ist sie. Unzählige Anfragen zu rechtsextremer Gewalt, zur Flüchtlingsproblematik, zu polizeilicher Willkür hat sie gestellt. Sie sagt: „Ich bin eine hartnäckige Informationsbeschafferin.“ Ihre angriffslustigen Ansagen werden ihr allerdings oft als Dogmatismus ausgelegt. „Von schwammigen Formulierungen halte ich eben nichts. Was soll das heißen: Es kann ja mal sein?“
Die Frage nach dem Osten im Westen bringt Jelpke, die sich schon seit 1990 mit Sozialisten und Sozialistinnen der Ex-DDR zusammenraufen muss, ins Grübeln. Wie bei einem aufgewühlten Meer wird zuerst das hochgespült, was nicht schmeichelt. „Dass aus dem Osten eine Kultur mitgebracht wurde, die mit Widerspruch nicht gut umgehen konnte“, sagt sie. Und dass zwischen Anspruch und Wirklichkeit eine Kluft war. „In der PDS wurde staatstragend gedacht.“ Die Ostpolitiker hätten damals nicht verstanden, dass sie in der Opposition sind und dass man für seine Ziele kämpfen muss. „Im Grunde hat man in der DDR keine klassenkämpferischen Erfahrungen gemacht, obwohl Klassenkampf ideologisch so wichtig war.“
Die Frage nach dem Osten im Westen fragt aber eigentlich nach Positivem. Da beruhigt sich das Meer und Jelpke antwortet spontan: „Die Leute aus der DDR haben Sicherheit als gelebte Erfahrung mitgebracht. Dass das gesellschaftliche Leben in Sicherheit verläuft.“ Man hatte Arbeit, hatte zu essen, hatte Kinderbetreuung, Alleinerziehende, Uneheliche waren nicht schlechter gestellt, es gab Zugang zu Bildung, Strafgefangene bekamen nach der Entlassung eine Wohnung, eine Arbeit. Solche Sachen fallen ihr ein. „Wie hätte mein Leben sein können, wenn es diese Sicherheit gegeben hätte.“
Und plötzlich erzählt sie ihr Leben. Die Mutter – mit vier Kindern, oft alleinerziehend. „Ich war die Älteste.“ Ihren Vater kennt sie nicht. Die Mutter – drei Jobs, um die Familie durchzubringen. Morgens putzen, mittags in die Schleifmittelfabrik, abends Imbiss. „Die Angst, dass das Geld nicht reicht, war immer da.“ Die Mutter – Kriegskind mit nur drei Jahren Schule. Und dann die Männer. Einer, Ulla Jelpkes Stiefvater, missbraucht sie ab ihrem zwölften Lebensjahr. Mit sechszehn wird sie schwanger von ihm. Mit siebzehn bringt sie eine Tochter zur Welt, die sie zur Adoption freigibt. Ulla Jelpke selbst kommt ins Heim. „Das Heim war fast eine Erlösung.“ Sie fängt an, sich durchzubeißen. Zäh. Verletzt. Radikal. Auch fängt sie an, ihre Tochter zu suchen, die sie 22 Jahre später erst findet. „Sicherheit, das fand ich so beeindruckend“, sagt sie. „Sicherheit, das wollen wir auch.“
■ Waltraud Schwab ist sonntaz-Reporterin. Geboren 1956 in Südbaden, lebt sie heute in Westberlin