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Fliegen auf Schienen

Bahn Zwischen Berlin und München rast der ICE bald mit Tempo 300 durchs Land. Mit weniger als vier Stunden Fahrzeit zwischen den beiden Metropolen wird die Bahndamit zur echten Alternative zu Bus, Flugzeug und Auto

Schnurgerade: die Neubaustrecke durch den Thüringer Wald vor dem Tunnel Baumleite Foto: Holger John/imago

Von unterwegs Richard Rother

Die Premiere beginnt mit einer kleinen Verspätung: Um 10.18 Uhr, zwölf Minuten später als ursprünglich geplant, verlässt am Mittwoch der ICE „Hansestadt Lübeck“ das fränkische Bamberg, um zum ersten Mal auf der Neubaustrecke ins thüringische Erfurt Passagiere zu befördern. Ganz normale Gäste sind das freilich nicht: 102 Tage vor der regulären Inbetriebnahme der Schnellfahrstrecke sind auf dieser Sonderfahrt nur Geladene dabei: Bahnmitarbeiter, Journalisten, Polizisten – und Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU). Sie alle sollen demonstriert bekommen, was es heißt, wenn der Zug mit Tempo 300 durch die Mitte Deutschlands rast.

Zunächst aber müssen sich die Passagiere gedulden: Im Bamberger Umland ist das Tempo moderat. Aber schon nach wenigen Minuten beginnt die Neubaustrecke, direkt am Oberlauf des Mains, dessen Stromschnellen und Sandbänke linker Hand zu sehen sind. Die Strecke ist ab hier immer wieder von hohen Schallschutzwänden gesäumt. Um 10.32 Uhr wird erstmals ein Tempo von 200 Kilometern pro Stunde erreicht, bald darauf sind es schon 250 Kilometer pro Stunde. Der Zug rast durch Tunnel, über Täler, durch Tröge – vorbei an Hügeln, Weihern, Dörfern. Um 10.38 Uhr wird Tempo 300 geschafft, wenig später erscheinen gar 302 und 305 auf der elektronischen Anzeigetafel. Zwar ruckelt es ein wenig, aber sonst ist diese Geschwindigkeit in den Sitzen kaum zu spüren.

Das Rasen geht weiter, jetzt auf etwa 500 Meter Seehöhe durch den Thüringer Wald, dessen Berge und Täler draußen vorbeifliegen, wenn die Ohren nicht gerade im Tunnel dröhnen – und schon wechseln am Nordrand des Mittelgebirges Kiefern die sonst vorherrschenden Fichten ab. Als der Zug auf Tempo 200 bremst, fühlt sich das plötzlich langsam an. Dann wieder Tempo 300, parallel zur neuen Autobahn, die viele Jahre vor der Bahnstrecke fertig wurde. Mühelos zieht der Express an einem dunklen Luxus-Geländewagen auf der Autobahn vorbei – auch ohne Stau ist der ICE dem Pkw weit überlegen. Um 11.04 Uhr ein kaum spürbarer Ruck. Stillstand. Der Zug hat Erfurt erreicht.

Noch jagt der ICE nur zur Probe durch Franken und Thüringen, aber schon im Dezember wird er seinen Regelbetrieb zwischen Berlin und München aufnehmen. Das ist nicht nur ein verkehrspolitischer Meilenstein, sondern auch ein gesellschaftlicher und wirtschaftlicher: 27 Jahre nach der Wende wird damit endlich und mit gewaltiger Verspätung das Verkehrsprojekt Deutsche Einheit Nummer 8 vollendet. Städte wie Halle, Leipzig und Erfurt werden damit enger an die Metropolen Berlin, München und Frankfurt am Main angebunden.

Am Beispiel Leipzigs lässt sich ahnen, wie wichtig solche Verbindungen sein können: Dass die Stadt an der Pleiße mittlerweile von Berlin aus in einer guten Stunde zu erreichen ist, hat ihren Aufstieg zum wirtschaftlichen und kulturellen Zentrum Sachsens sicher beflügelt. Auch die Landeshauptstädte Erfurt und Halle (Saale) sind in den vergangenen Jahren sichtbar aufgeblüht.

Bedeutsam ist das 10-Milliarden-Bahnprojekt, das ausgerechnet die frühere rot-grüne Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) über Jahre verzögert hatte, aber vor allem verkehrspolitisch: Weniger als vier Stunden wird die Bahn mit ihren ICE-Sprintern künftig zwischen Berlin und der bayerischen Landeshauptstadt benötigen. Bislang sind es deutlich mehr als sechs Stunden. Die Sprinter halten dabei auch in Halle (Saale), Erfurt und Nürnberg – und sind so ein echter Mehrwert für Mitteldeutschland und Franken.

Nicht nur Jena, ­sondern auch Städte wie Saalfeld und Lichtenfels ­werden künftig nicht mehr in den Genuss ­kommen, an der Hauptstrecke zu liegen. Manch ­romantischer ­Bahnfahrer wird die ­entschleunigte Fahrt durch das Saaletal vermissen

Wichtiger aber noch ist: Mit der Fahrzeitreduzierung zwischen Berlin und München wird die Bahn zu einer echten Alternative zum Flugzeug für Reisende und Berufswochenpendler, zumal der Münchner Flughafen weit vor der Stadt liegt und nicht an das Hochgeschwindigkeitsnetz der Bahn angeschlossen ist. Von Innenstadt zu Innenstadt geht es fortan etwa genauso flott wie mit dem klimaschädigenden Flugzeug.

„Die attraktivste Art, von München nach Berlin zu reisen, wird mit der Bahn sein“, prophezeit Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) deshalb während der Probereise. Die Bahn werde auf dieser Strecke ihren Marktanteil verdoppeln, und zwar von 20 auf 40 Prozent, hofft der Minister. Rund 3,6 Millionen Passagiere würden dann jährlich die Bahn auf dieser Verbindung nutzen, deren Bau im geplanten Zeit- und Kostenrahmen geblieben sei.

„Deutschland rückt auf der Schiene zusammen“, sagte Bahnvorstand Berthold Huber. „Von der größten Angebotsverbesserung in der DB-Geschichte profitieren rund 17 Millionen Menschen entlang der neuen Strecke.“ Sie könnten sich über deutlich kürzere Reisezeiten und bessere Anbindungen freuen. So solle Erfurt ein neuer Bahnknoten für den Nah- und Fernverkehr werden. Die neue Schnellfahrstrecke sei deshalb auch kein Prestigeprojekt.

Ein Vertreter der Lufthansa ist nicht an Bord des ICE, doch die Airline gibt sich trotz der verbesserten Konkurrenz zwischen Preußen und Bayern betont gelassen. „Mehr als die Hälfte unserer Passagiere auf dieser Strecke steigt an unserem Drehkreuz in München um“, sagte Lufthansa-Sprecher Wolfgang Weber der taz. Für die komme ein Wechsel zur Bahn kaum infrage, zumal der Münchner Flughafen keinen ICE-Anschluss hat. Mögliche Einbußen im Stadt-zu-Stadt-Verkehr würden durch den Ausbau der Langstreckenverbindungen ab München ausgeglichen. „Wir stärken das Drehkreuz München.“ Wegen begrenzter Kapazitäten beim Wachstum in Frankfurt würden Langstreckenverbindungen nach München verlagert. Zwischen Berlin und München fliegt Lufthansa derzeit jede Stunde. Und dabei, so der Sprecher, werde es auch bleiben.

Wer künftig fliegt, verpasst so einige technische Innovationen am Boden, auch wenn die beim vorgelegten Tempo kaum zu erahnen sind. Dazu zählt etwa der Schallschutz. So können die Züge mit 300 Kilometer pro Stunde durch die vielen Tunnelröhren donnern. Damit sich die aufgestauten Luftmassen am Tunnelausgang nicht mit einem heftigen Knall entladen, gibt es so genannte Haubenbauwerke an den Portalen. Diese Einhausungen sehen aus wie riesige Pistolenschalldämpfer und funktionieren auch auf ganz ähnliche Weise: Sie bewirken, dass sich die Druckwellen geräuscharm verwirbeln und ausbreiten können.

Zudem wurden Schienen nicht auf Schotter, sondern auf vorgefertigten Betonplatten verlegt. Diese Bauweise soll eine längere Haltbarkeit ermöglichen. Das käme auch den Fahrgästen zugute, hätten sie doch weniger sanierungsbedingte Ausfälle oder Umleitungen zu befürchten.

Kritik an der Neubaustrecke gibt es natürlich dennoch. Sie kommt nicht vom ADAC, sondern vom unverdächtigen Fahrgastverband Pro-Bahn. „Der Streckenverlauf München–Berlin über Erfurt ist nicht optimal, weil er zu weit westlich liegt, aber jetzt müssen wir das Beste daraus machen“, sagte Verbandssprecher Karl-Peter Naumann der taz. Damit beispielsweise Jena nicht abgehängt werde, brauche man bessere Konzepte für ergänzende Strecken, etwa Intercity-Verbindungen, auf denen die Fahrgäste wie in Niedersachsen auch Nahverkehrstickets nutzen können. „Andernfalls zählen Ostthüringen und Westsachsen zu den Verlierern.“

Nicht nur Jena, sondern auch die Städte Saalfeld und Lichtenfels werden künftig nicht mehr in den Genuss kommen, an der Hauptstrecke von Berlin nach München zu liegen. Manch romantischer Eisenbahnfahrer wird dann vielleicht die entschleunigte Fahrt durch das Saaletal vermissen: Hier kann man nicht nur in Ruhe einen mäandernden Kleinfluss bewundern, sondern auch bewaldete Hänge, Felsen, Weinberge, Burgen und mittelalterliche Altstädte – und bekommt Lust zum Aussteigen und Verweilen.

Wen danach dürstet, der muss künftig auf die Regionalbahn umsteigen.

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