: Der Schach-Wahlkampf
Politiker, Passanten: Dutzende Wahlveranstaltungen hat der Autor dieses Artikels in den vergangenen Wochen besucht. Und den Eindruck gewonnen: Dieser Wahlkampf wurde nicht für die Wähler gemacht – am Publikum ging er vorbei. Dennoch (oder gerade deswegen) waren es politische Zeiten
VON JÜRGEN BUSCHE
Das hat man ja oft erlebt, dass eine Partei die Bundestagswahl gewinnt und hernach bei Landtagswahlen dafür bestraft wird. Diesmal könnte es umgekehrt sein. Eine Partei verliert in einem großen Landtag und gewinnt anschließend die Wahlen zum Bundestag – Wahlen, die längst schon als verloren galten. Gewiss, im aktuellen Fall deutet nichts darauf hin, dass es so kommt. Aber es deutet auch nichts auf das Gegenteil hin. Die Zahlen der Umfrage-Institute spielen seit zwei Wochen verrückt, und je massiver die großen Parteien zum Schluss ihre Versammlungen unter freiem Himmel inszenieren, umso krasser wird auch deutlich, wie wenig die Bevölkerung damit zu tun hat.
So wenig Interesse am Wahlkampf – nicht dem Fernsehwahlkampf, sondern dem direkten Wahlkampf auf den öffentlichen Plätzen – war nie. Infostände der Parteien am Rande großer Wochenmärkte waren eher selten. Der Terminkalender der Bundestagskandidaten mag zwar prall gefüllt gewesen sein, Publikumsandrang bei den Terminen wird aber in den meisten Fällen die Ausnahme gewesen sein. Zumindest war es die Ausnahme in den Dutzenden Wahlveranstaltungen, die der Autor dieses Artikels besuchte. Ob Freiburg oder Minden, Köln oder Schwerin, Hamburg-Rotherbaum oder Frankfurt (Oder): Der Wahlkampf 2005 schien nicht für die Leute gemacht, die tatsächlich wählen gehen.
Die Wirklichkeit großer Wahlkundgebungen veranschaulicht folgendes Bild, nur ein Beispiel von vielen: In Potsdam wird Joschka Fischer erwartet. Dafür ist ein großes Terrain weiträumig abgesperrt. Auf dieses Terrain zu führt eine lange Fußgängerzone. Es ist ein Spätnachmittag. Passanten , die hier in Richtung Rednertribüne unterwegs sind, laufen unvermeidlich in die Kundgebung und verursachen dort ein Gedränge, wo etwa 200 bis 300 Kundgebungsbesucher dem Redner zujubeln. Die Öffnung zur Straße dahinter ist schmal. Wer da durch will, ist für einige Zeit in Kundgebungshaft genommen. Einige der Passanten bleiben auch freiwillig kurz stehen und hören zu. So entsteht der Eindruck, da wären tausende gekommen. Die Fischer begleitenden Journalisten sind mit dem Bus in die abgesperrte Zone gefahren. Dort sind für sie Bänke aufgestellt und von denen aus verfolgen sie den Auftritt des Außenministers wie ein freundliches Theaterpublikum, das kennerhaft jede Geste, jede Mimik beurteilt.
Bei den großen Zeitungen schlägt in Wahlkampfzeiten die Stunde der Laienpsychologen. Am Gegenstand ihrer Beschreibungsversuche, dem Politiker, entgeht ihnen nichts. An den Adressaten der Veranstaltungen, den Zuschauern, entgeht ihnen fast alles – soweit sie sich nicht selber als solche begreifen. Die besten von ihnen – und es gibt viele sehr gute – begleiten die Kampagne wie ein großes Schachturnier. Sie wissen alles über die Turnierkämpfer und teilen es mit. Sie analysieren sorgfältig die Züge am Brett und registrieren die Auswirkung der Züge auf die Haltung der Spieler. Das Publikum im Saal interessiert den Schachjournalisten nicht. Über den Sieg wird am Brett entschieden. Aber über den Sieg im Wahlkampf entscheidet das Publikum.
Das Publikum des Bundestagswahlkampfs aber, den Gerhard Schröder vom Zaun gebrochen hat, ist lange Zeit überhaupt nicht im Spiel gewesen. Der Wahlkampf fand weithin unter Ausschluss des Wählers statt – auch wenn dieser sich selbst ausgeschlossen hatte. Gewiss, ein Auftritt von Angela Merkel mit dem ganzen Brimborium des Wahlkampftrosses zog Menschen an. Es waren die Entsandten der regionalen Parteigliederungen und die Pfeifabteilungen aus den Reihen ihrer politischen Gegner. Doch die meisten derer, die etwa auf dem Marktplatz in Wittenberg stehen blieben, bestaunten den Aufwand, der getrieben wurden; sie taten dies ähnlich befremdet und staunend, wie sie dem Aufbau der Technik zuschauen, wenn das ZDF mit einer populären Livesendung in eine mittelgroße Stadt kommt.
War es ein Fernsehwahlkampf, haben wir den Triumph der elektronischen Medien erlebt? Wird es künftig immer so sein? Wird die Infantilisierung der Parteijugend im gleichartigen Outfit als Claque fortschreiten? Oder sind am Ende das die normalen Zeiten, die das Datum dieses Jahres notiert, und politische Wahlkämpfe der Vergangenheit waren die Ausnahme, veranlasst durch eine politisierte und mithin wenig angenehmen Gesellschaft? Gehört es zur Arroganz der jetzt abzuwählenden Zeit, wenn man sagt, dass dieser Wahlkampf kein Wahlkampf war? Das wohl nicht, denn arrogant war in den zurückliegenden Wochen nichts mehr als die Sicherheit, mit der Angela Merkel, der Union und der FDP ein hoher Sieg prophezeit worden war, Rot-Grün jedoch ein sicheres, vielleicht sogar schmähliches Ende.
Davon ist nicht mehr die Rede. Das hat nichts mit Wahlkampf zu tun, führt aber zu der Frage: Wem nützt der Wahlkampf, der keiner war? Die Veränderung bei den Zahlen der Umfrage-Institute geben hier eine eindeutige Antwort: Nutznießer ist Bundeskanzler Schröder und mit ihm die SPD.
Bleibt die Frage, ob die Wende rechtzeitig gekommen ist oder zu spät. Mit dieser Frage ist aber schon eine davor liegende beantwortet. Warum nutzt das Desinteresse am Wahlkampf Schröder? Weil er so die Auseinandersetzung auf eine Ebene bringen konnte, die gerade die einfachen Leute interessiert. Die Union war so glücklich darüber, dass man ihr in der diskutierenden Klasse des Landes mit Erfolgsaussichten huldigte, dass sie darüber vergaß, eine Sprache für den Rest des Volkes zu finden. Das, so hatte man wohl im Konrad-Adenauer-Haus gedacht, hat von der SPD die Schnauze voll und wird auf jeden Fall uns wählen – siehe Nordrhein-Westfalen im Mai. Dabei hatte man die Rechnung nicht mit dem in Überraschungscoups erfahrenen Gerhard Schröder gemacht, der seinerseits nicht gesonnen war, nach der Niederlage an der Ruhr seine Rechnung weiterhin mit der SPD zu machen. Schröder tanzte auf einer eigenen Fete – und siehe da, die Leute schauten ihm zu.
In der Gunst des allgemeinen Desinteresses am Wahlkampf gelang es Schröder, seine Partei etwas vergessen zu machen: Er hatte sich von ihr das Vertrauen entziehen lassen und nun stand sie in der Ecke wie ein Regenschirm bei blauem Himmel. Das war sein Trick. Sein Glück war, dass gleichzeitig mehr und mehr sichtbar wurde, dass Angela Merkel ihre Partei nicht im Griff hatte. So etwas interessiert die Leute immer. Stoibers Sprüche, Wulfs Distanz, interner Zwist ohne Ende. Wenn die Wirtschaftsbosse es wirklich ernst meinten mit ihren Warnungen vor einer Niederlage von Schwarz-Gelb, dann müssten sie, sollte die tatsächlich kommen, vor allem Stoiber und Wulf in den Senkel stellen. Aber das werden sie nicht tun, denn sie meinen es nicht ernst mit ihrer Ablehnung von Rot-Grün.
Erst hat man kein Glück, darf Angela Merkel mit Blick auf ihre Parteien sagen, und dann kommt auch noch Pech dazu. Das Pech hat bei ihr den Namen Kirchhof. Auch das hat Schröder mit dem Instinkt des Punchers genutzt. So bekam er einen Vorteil, den er zugleich für die SPD nutzen konnte. Mag die diskutierende Klasse über die Steuermodelle streiten – die einfachen Leute, die überall die Mehrheit haben, erleben das, wie wenn der Arzt am Krankenbett plötzlich mit seinen Kollegen Fremdwörter austauscht. Sie wissen dann: Was immer es bedeuten mag, es ist nicht gut für mich.
Das war der Augenblick, zu dem Schröder noch einmal in die Trickkiste griff und daraus hervorholte, was er schon 1998 mit Erfolg angewandt hatte, damals als es um die Kanzlerkandidatur ging und er Lafontaine ausschaltete. Er hatte sich für seine Landtagswahl die Messlatte recht hoch gelegt und eine „Wetten, dass …“-Situation beschworen. Das faszinierte die Leute. Die Landtagswahl wurde zum Plebiszit, das vor allem durch die Frage bestimmt war: Schafft er es? Jetzt hat Schröder die Messlatte auf 38 Prozent der Stimmen bei der Bundestagswahl gelegt. Kommt er darüber, kann die SPD wieder stärkste Partei werden und er Bundeskanzler bleiben.
Zu Recht schaute Außenminister Fischer von den Grünen zuletzt unwirsch drein, denn das Konzept seines Koalitionspartners ist unpolitisch und hat deshalb zumindest noch Chancen, zum Erfolg zu führen, weil das verbreitete Desinteresse am Wahlkampf zuvor den Raum öffnete für solche Tricks. Bei dergleichen „Wetten, dass …“-Übungen – kann der Kandidat in zwei Minuten tausend Kerzen ausblasen? – geht es nämlich nur um den Kandidaten und nicht um eine zweite Figur, die überflüssig auf der Bühne mit herum steht. Die Linkspartei mit dem Erfolgsduo Gysi/Lafontaine ist in dem Umfragen schon abgestürzt. Als man noch einen politischen Wahlkampf erwartet hatte, waren ihr 10 bis 12 Prozent zugetraut worden. Auf der anderen Seite ist infolge der Personalisierung Schröder–Merkel die FDP gefährlich abgesackt.
Manche erwarten morgen eine hohe Wahlbeteiligung. Der Wahlkampf erklärt eine solche Prognose nicht, wohl aber Schröders Taktik. Degoutant? Den Politikern hatte schon Aristoteles in seiner Rhetorik sinngemäß zu bedenken gegeben, dass die Schiedsrichter über die Qualität einer Rede zugleich die Richter sind. Heißt: Der Wähler sagt, wer es richtig gemacht hat.