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Berliner SzenenSinkende Wahlbeteiligung

Stimme abfeuern

„Okay, vielleicht sehe ich auch alles zu schwarz “, meinte er

Gestern Abend traf ich mal wieder C. Er ist Anwalt und Sportler. Jeden Tag geht er nach getaner Arbeit joggen. Mindestens fünf Marathons läuft er im Jahr. Er brauche das so sehr wie die Juristerei ihre Gesetze, hat er mal gesagt.

Kaum hatten wir unseren Drink bestellt, fiel das Gespräch auf die Wahlen. Schließlich öffnen die Wahllokale schon in knapp drei Wochen. Und in knapp drei Wochen nimmt C. am Berlin-Marathon teil. An dem Tag, an dem auch die Bundestagswahl stattfindet. Mir war das gar nicht be­wusst, schließlich schaffe ich es nicht, 42,195 Kilometer am Stück zu laufen.

C. nahm einen großen Schluck von seinem Bier. „Das ist doch ungeheuerlich“, meinte er. „Ständig wird geklagt über zu wenig Wahlbeteiligung und dann wird die Wahl genau auf den Tag gesetzt, an dem 50.000 Leute durch Berlin laufen und eine Millionen Zuschauer an der Strecke stehen.“ Wieder trank er einen großen Schluck. „Ich bin mir sicher, dass dadurch viele Leute nicht wählen gehen. Man hätte dafür doch locker einen anderen Sonntag wählen können, oder etwa nicht?“ Ich kam ins Grübeln und zog an meiner unsportlichen Zigarette.

Was ist, wenn Leute für den Marathon nach Berlin anreisen und die Briefwahl vergessen? Oder was ist, wenn durch die Laufstrecke der gewöhnliche Weg zum Wahllokal versperrt wird und potenzielle Wähler auf der Strecke bleiben? War diese Terminierung tatsächlich idio­tisch? Ist schließlich eine der größten Sportveranstaltungen des Landes!

Am Ende unseres Treffens fragte mich C., ob ich ihn beim Marathon anfeuern werde. Ich überlegte kurz und sagte dann: „Ja, aber erst mal werde ich meine Stimme abfeuern.“ C. musste schmunzeln. „Okay, vielleicht sehe ich auch alles zu schwarz “, meinte er, bevor wir uns verabschiedeten.

Eva Müller-Foell

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