: taz.che
HAUSBESUCH Niemand hat auf taz.de so oft seine Meinung gesagt wie er. Wer ist dieser „vic“, der jeden Tag an die vier Mal postet, fragte ich mich als Praktikantin beim Freischalten der Onlinekommentare. Die Suche führt hinaus aufs schwäbische Land zu einem Kranken
TAZ-USER VIC ZUR FORDERUNG NACH EINEM NEUEN „AUFSTAND DER ANSTÄNDIGEN“
VON NANCY WALDMANN
„Die deutsche Gesellschaft ist nicht überfremdet, sie ist verblödet. Das ist meine Sicht der Dinge, und ich muss es wissen. Ich bin mittendrin.“
Es ist 5.10 Uhr, und dies schreibt taz-User „vic“. Er kann nicht schlafen, also steht er auf, setzt sich an seinen Laptop und tippt ein: www.taz.de. Auf dem Bildschirm erscheint das, was er sein „Fenster zur Welt“ nennt. Um ein Uhr nachts, um sechs Uhr morgens, um zwei Uhr mittags. Über 8.000 Kommentare hat vic auf taz.de hinterlassen, so viele wie kein anderer User.
Und ich habe sie täglich freigeschaltet. Das war meine Aufgabe als ich in der Onlineredaktion der taz ein Praktikum machte. Jeder taz.de-Mitarbeiter kennt vic aus der Spalte „Page Comment“ im Redaktionssystem. Dort laufen in einer Endlosschlange die Beiträge der User ein. Dort muss man sich durch das Meinungsdickicht schlagen und kommt sich manchmal vor wie ein Frontbeobachter. Vics Beiträgen begegnet man gern. Sie sind kurz, ehrlich, zum Thema und meist besonnen. Freundlich gegenüber dem Verfasser des Artikels, mäßigend gegenüber Kommentatoren, die sich im Ton vergreifen. Bisweilen witzig bis bissig.
„ ‚Die CDU geht mit der Zeit, um ihre Werte zu erhalten.‘ Hauptsache, sie geht, gerne auch schneller.“
In einer südwestdeutschen Kleinstadt, die auf -ingen endet, ist vic zu Hause. „Arg Provinz“, sagt er. Wie ein Höhlenmensch lebt vic in seiner holzverkleideten Dachgeschosswohnung und sieht auch ein bisschen so aus. Zottelige Haare, Jogginghose, Karohemd. Eine bubenhafte Miene. Vor dem Balkonfenster, von dem aus man auf grüne Baumwipfel blickt, steht sein Computer. Kraftlos plumpst vic in den Drehstuhl. In der Küche faucht die Kaffeemaschine.
Diese Woche hat vic Chemotherapie. Er ist schläfrig. Auf dem Schrank liegen viele Packungen eines Medikaments. Vor 20 Jahren entdeckten Ärzte einen Tumor in seinem Kopf. Er wurde operiert, und für ein paar Jahre war Ruhe. Dann Rückfälle, wieder Operationen, Therapien und Krankenhausaufenthalte. Zuletzt in diesem Jahr, er zeigt auf eine lichte Stelle am Kopf. Seit 2006 ist vic Rentner, er ist heute 54 Jahre alt. Er lebt allein und hat viel Zeit. 2007 startete die interaktive taz.
Zweimal am Tag schaut der Pflegedienst der Caritas bei vic nach dem Rechten, oft sind es die einzigen Menschen, denen er begegnet. Er habe sich ans Alleinsein gewöhnt, sagt vic. Seine Eltern wohnen fünf Kilometer entfernt. Manchmal laden sie ihn zum Mittagessen ein. Aber es ist nicht nur die Krankheit, die vic einsam gemacht hat.
Er ist ein Schwabe, der es nie mit der CDU aushielt. Bis zur Verrentung arbeitete er als Drucktechniker. „Ich war immer ein Außenseiter“, sagt er. Vic wählt die Linke, seiner Meinung nach „die einzige wirkliche Oppositionspartei“. Die Linke schafft es in seiner Stadt nicht einmal in den Gemeinderat, und vielleicht kann sie sich nur deswegen seiner Stimme sicher sein. Er mag die Meinhof-Biografin Jutta Ditfurth, Sahra Wagenknecht und den Kabarettisten Georg Schramm. Opposition ist die Rolle, in der vic bei sich ist. Sobald CDU-Politiker auf taz.de auftauchen, läuft er in der Kommentarsektion zur Hochform auf.
5.24 Uhr. taz-Chefredakteurin Ines Pohl diskutiert mit Grünen-Chefin Claudia Roth auf taz.de, ob die Kanzlerin die Fußballelf der Frauen bei der WM mehr anfeuern sollte, da hackt vic in die Tastatur gegen seine Lieblingsfeindin:
„Die Kanzlerin in der Frauenkabine? Ich rate ab, so kurz vor der Ziellinie. Das zieht doch total runter.“
Vics Humor ist verschroben, nah am Sarkasmus. Von keinem anderen User wurden so oft Kommentare in der Rubrik „Mehr auf taz.de“ in der taz gedruckt. Ohne dass er jemals dazu ernannt wurde, ist vic zum Botschafter der Online-Community bei den Zeitungslesern geworden.
„ ‚Strahlung ist harmlos‘ – sagt das Bundesamt für Verstrahlerschutz. Und Rauchen ist gesund – sagt Dr. Philip Morris.“
Die Kolumnen von Küppersbusch („Das war wieder mal zum Niederknien, Herr Küppersbusch!“) und von Deniz Yücel („Ach schade, hab mich schon gefreut. Deniz, das kannst Du besser“) sind Höhepunkte in vics Alltag. Bei Silke Burmester geht ihm regelmäßig das Herz auf („Ach, Silke. Ich liebe Sie ;)“). Vic musste seine geistige Familie erst finden. „Früher habe ich mehr bei sueddeutsche.de kommentiert“, sagt er. „Aber es wurde mir da zu konservativ. Den Ton fand ich ungepflegt.“ Auch auf taz.de vergreifen sich Menschen im Ton. Dann verteidigt vic die taz-Autoren:
„Ich fasse es nicht. Wie kann Mann und Frau sich nur so aufregen? Wer die Kolumne und/oder DENIZ YÜCEL nicht ausstehen kann, soll eben weiterklicken. Jedenfalls kein Grund, persönlich zu werden.“
Vic tut etwas, was in der taz immer diskutiert wird, wofür es aber kein Personal gibt. Er moderiert. Früher stritt sich vic gern am politischen Stammtisch mit Bekannten. Jetzt ist die Kommentarspalte sein Stammtisch.
Vic hält nichts davon, dass Onlinenutzer Klarnamen verwenden sollen. „Ich würde mich vorsichtiger äußern. Und die Diskussionen wären weniger interessant.“
Das Pseudonym „vic“ steht für „Hasta la victoria siempre“, sagt er. Bis zum ewigen Sieg – der Schlachtruf des südamerikanischen Revolutionärs Che Guevara. Vic hat ein T-Shirt mit Guevaras Konterfei im Schrank. Und er trägt es seit langer Zeit nicht mehr, weil er zwar Guevaras Sache, nicht aber den bewaffneten Kampf dafür gutheißt. Und weil er sich zu alt dafür fühlt. Doch er lässt sich den Spaß nicht nehmen, am virtuellen Stammtisch mit den rechten Spinnern zu streiten, die sich manchmal im taz.de-Forum tummeln. Weil sie ihn herausfordern. „Ich bin nicht anständig, wollte ich nie sein“, schrieb vic einmal, als jemand den „Aufstand der Anständigen“ gegen Pro Deutschland forderte.
Wenn er einen Wunsch freihätte? Dann hätte er gern keinen Gehirntumor. Er würde wieder rausgehen unter Leute und ein bisschen weniger allein sein. Er würde Jutta Ditfurth treffen. Und wieder mit dem Motorrad über die Landstraße fahren. Eine mit vielen Kurven. Geradeaus fahren findet vic langweilig.