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Wühlen in der Tiefe

Theater Die Wirklichkeit ist immer woanders: Stücke aus Frankreich und Argentinien beim Sommerfestival auf Kampnagel

von Robert Matthies

Ein paar Mal zuckt ein Stroboskoplicht und ein kurzes surrendes Dröhnen grollt durch die mit Nebel durchwolkte Dunkelheit. Spitzhacken schlagen knallend und rumpelnd durch die Rückwand einer wacklig zusammengezimmerten, nach vorn offenen Bretterbude in der Mitte der Bühne. Erst schieben sich riesige Schaufelpranken durch die Löcher, dann haarige Rüsselnasen. Und nach und nach kriechen sieben tapsige Maulwürfe brummelnd und ächzend durch einen Tunnel ins Licht des kleinen Raums, schieben dabei mühsam riesige Fels- und einen Goldklumpen mit sich, schleppen sie in eine Ecke und lehnen sich schließlich erschöpft an die Wände.

Nein, dies ist nicht Kindertheater, sondern das Sommerfestival auf Kampnagel in Hamburg. Eine beeindruckende riesige Höhle hat der französische Bühnenbildkünstler und Theaterträumer Philippe Quesne, Leiter des Pariser Théâtre Nanterre-Amandiers, hier für seine „Nacht der Maulwürfe“ gebaut. Das tierische Spiel des Franzosen, bekannt für seinen ungewöhnlichen Umgang mit Requisiten, Raum und Körpern, wurde vergangenes Jahr beim Brüsseler Kunstenfestival des Arts zum ersten Mal gezeigt. Wie in einer barocken Perspektivbühne erzeugen von der Decke hängende Plastikfolien, Styropor-Stalagmiten und diffuses Licht Tiefe. Am Bühnenrand steht Equipment für eine ganze Maulwurfband, zu der sich später immer wieder mal mehr, mal weniger der ungelenken Riesen zusammenfinden, um den Abend mit psychedelischer Unterweltmusik zu begleiten. Mal gibt es düsteren Country zu hören, mal singt ein Maulwurf eine Arie, mal erklingt holpriger Kavernen-Kalypso.

Anderthalb Stunden lang lässt Quesne seine Maulwürfe über die Bühne tollen, ihr ganz banales Leben leben und grunzend miteinander kommunizieren. Verstehen kann man ihr Grummeln nicht, aber eine Geschichte erzählt Quesne auch gar nicht. Stattdessen hat er ein paar schrullige Szenen skizziert, lässt seine Schauspieler improvisieren, so gut es die Pelzkostüme eben zulassen, die ihnen Kostümbildnerin Corinne Petitpierre auf den Leib geschneidert hat.

Und sie machen vor allem, was Maulwürfe offenbar so tun: Sie graben und hacken, sie wühlen und schieben nicht übermäßig motiviert wie unterirdische Geschwister von Sisyphos Felsen mal hierhin, dann dorthin. Irgendwann beginnen sie, die Bretterbude einzureißen, treiben grobe Späße miteinander, sprühen Höhlenbilder auf die Wände. Ein Stein wird mit einer Seilwinde an die Decke gehievt, bald landet dort nach äußerst knapper Trauerzeit auch ein beim Arbeitsunfall tödlich verunglückter Maulwurf.

Wer mag, vermag darin alles Mögliche erkennen: eine Allegorie aufs menschliche Dasein, ein theatrales Nachspielen seiner Kulturentwicklung und ein vom Kopf auf die, nun ja, Schaufelhände gestelltes Höhlengleichnis. Oder schlicht eine Einladung, nicht immer nur Tiefschürfendes im Theater zu suchen, sondern einfach lustvoll-anarchisch in seinen Grundfesten herumzuwühlen.

Bei all dem lässt sich Quesne auch diesmal viel Zeit, erzeugt mit immer wieder neuen Lichtstimmungen eine sich beständig wandelnde Höhlenatmosphäre und gibt dem Publikum Raum, den Blick und die Gedanken schweifen zu lassen. Einen Großteil des Abends sind die Maulwürfe nur damit beschäftigt, die Elemente der Bühne zu verschieben, Dinge an die Decke oder von ihr herunterzuziehen und immer neue Konstellationen entstehen zu lassen. So hält der Abend beständig seine Spannung zwischen betriebsamer Rumpeligkeit und verträumter Poesie, zwischen Banalem und Existenziellem.

Wie die unterirdischen Geschwister von Sisyphos schieben sie die Felsen

Ein ganz anderes Spiel mit den Mitteln des Theaters zeigte einen Abend zuvor der Argentinier Mariano Pensotti mit seinem vielfach verschlungenen Episodenabend „Loderndes Leuchten in den Wäldern der Nacht“. Entstanden als Auftragsarbeit für das Festival „Utopische Realitäten“ im Berliner HAU, erzählt Pensotti in drei präzise ineinander verschachtelten Teilen die Geschichten dreier Frauen, deren Schicksal mehr oder weniger lose mit den Nachwirkungen der Russischen Revolution von 1917 verknüpft ist. Als Puppenstück erzählt der erste Teil von Estela, die in Buenos Aires Revolutionsgeschichte lehrt und besessen ist von der kommunistischen Revolutionärin und Feministin Alexandra Kollontai und der Suche nach deren angeblich in Argentinien lebender Tochter. Ein frustrierendes Leben führt sie: Ihre Student*innen knutschen lieber, ihr Mann betrügt sie mit einer anderen und selbst ein Selbstmordversuch misslingt.

Aber wie Pensotti die Geschichte formal umsetzt, gelingt überzeugend: Weil es eben um die Verfügung über Körper geht, lässt Pensotti seine Puppen von Schauspielern in denselben Kostümen spielen. Immer wieder vermischen sich dabei die Ebenen, sprechen Puppen mit Puppen, Schauspieler mit Schauspielern oder Schauspieler mit Puppen. Und so verdoppelt Pensotti seine Figuren auch in den anderen Teilen, verschachtelt Erzählebenen und Wahrnehmungsdimensionen. Schließlich schickt er seine Puppen ins Theater, in dem eine deutsche Familie die Ankunft ihrer Tochter feiert, die als linke Ex-Guerillera aus Lateinamerika zurückkehrt.

Und wie die ineinander schachtelbaren Puppen scheint auch die ineinander verschachtelte Revolutionstruppe auf der Bühne nur von einem ins andere zu kommen, niemals aber heraus in die Wirklichkeit. Die es doch, so vernäht Pensotti seine Erzählfäden im still verzweifelten Ende mit Marx, nicht zu spiegeln, sondern mit dem Hammer zu gestalten gelte. Ein starker Abend.

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