Wissen Unbekannte Erfinder großer Dinge: Der „FAZ“-Herausgeber Jürgen Kaube erkundet „Die Anfänge von allem“: Kartoffeln sind dem Hirn zuträglich
Wo fing das an? Was ist passiert? Sich über den Beginn von etwas Rechenschaft ablegen zu können, das historisch sehr weit zurückliegt, ist eine reizvolle Vorstellung, die jedoch mit Hindernissen verbunden ist. Die Fragen dazu können lauten: „Wie fing das Weltall an?“ – um es kosmisch anzugehen –, „Wann fingen die Menschen an zu gehen“ – um den Blick auf die Entwicklung der eigenen Spezies einzuengen –, „Was war die früheste Form von Musik?“ – um die Perspektive weiter auf die Entwicklung der menschlichen Kultur zu konzentrieren.
Fragen der zweiten und dritten Kategorie, mithin nach den ersten Schritten in der menschlichen Evolution und ihren „zivilisatorischen Errungenschaften“, sind es, denen der FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube in seinem Buch „Die Anfänge von allem“ nachspürt. Wobei er gleich im ersten Satz herausstellt: „Die wichtigsten Erfindungen haben keine Erfinder.“ Was programmatisch für sein ganzes Buch ist, dessen Titel sich listig mehrdeutig gibt: „Die Anfänge“, das kann auf den jeweils absoluten Beginn jeder einzelnen menschlichen Leistung verweisen, es kann aber ebenso gut die Ungewissheit zum Ausdruck bringen, wie genau sich ein solcher Anfang bestimmen und datieren lässt. Mit dem Ergebnis, dass mehrere hypothetische Anfänge ein und desselben Phänomens um den Status einer gesicherten Erkenntnis konkurrieren – mit offenem Ausgang.
Genauso baut Kaube denn auch sein Buch auf. Zu Fragen wie der nach dem Anfang des Sprechens, des Kochens oder der Musik diskutiert er den Stand der jüngeren Forschung, die Antworten laufen in der Regel auf ein „Womöglich war es soundso“ hinaus. Endgültige Wahrheiten zu verkünden, ist nicht Kaubes Absicht. Bestimmte Zusammenhänge in der Evolution werden so als mehr oder minder wahrscheinlich herausgestellt: Dass die Entdeckung des Kochens nicht nur der Energiezufuhr zuträglich war, da die Verdauung auf diesem Wege weniger Kalorien verbraucht, sondern auch zur Entwicklung des Gehirns einen entscheidenden Beitrag geleistet haben dürfte, weil gekochte stärkehaltige Pflanzen das Wachstum des Hirns begünstigen, ist ein – plausibles – Detail im Mosaik der Geschichte der Menschen, aber, wie es scheint, kein unbedeutendes.
Singen am Lagerfeuer
Wie komplex die sozialen Prozesse im Einzelnen verlaufen sein könnten, die an der Entstehung der verschiedenen Dinge beteiligt waren, wird am Beispiel der Musik deutlich. Hier sind es unter anderem das Aufkommen von Lagerfeuern, die damit verlängerte wach verbrachte Zeit der Menschen und zugleich neu ermöglichte Formen der Geselligkeit, die sich im Zusammenspiel positiv auf die Kulturpraxis des Singens ausgewirkt haben könnten.
Kaube belässt es nicht bei einer Auflistung der wohl schlüssigsten Ansätze, sondern stellt Thesen immer wieder ihre Gegenthesen entgegen, um zu verdeutlichen, dass man es in vielen Fragen nach den Anfängen – wie in der Wissenschaft überhaupt – mit vielstimmigen Debatten, oft ohne klaren Favoriten zu tun hat. Kaube gibt hin und wieder eigene Präferenzen zu erkennen, ansonsten lässt er die Wissenschaftler, die nur ab und zu im Haupttext mit Namen genannt werden, einfach machen, fasst ihre Einsichten in guter feuilletonistischer Manier elegant zusammen, führt durch das Dickicht der Forschungsstränge, ohne sich im Gestrüpp des wissenschaftlichen Vokabulars zu verheddern.
Dazu streut Kaube manche Wissenschaftsblüte ein, wie die – unhaltbare – These, der Mensch stamme nicht vom Schimpansen ab, sondern vom Koboldmaki: Bei Letzterem hätten sich gegenüber den Vierbeinern stark differenzierte Vorderläufe herausgebildet. Trotzdem schöne Idee. Tim Caspar Boehme
Jürgen Kaube: „Die Anfänge von allem“. Rowohlt Berlin, Berlin 2017, 448 Seiten, 24,95 Euro
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