Kreative Wucht, barocke Nachbarschaft

SERIE KUNSTRÄUME (2) Schauspieler., Autoren, Musiker: Im Rechenzentrum Potsdam sind Kreative jeder Couleur unterwegs. Doch im Zuge des Wiederaufbaus der Garnisonkirche droht die Schließung

Hier ist überall Kunst. Rundgang im Rechenzentrum Potsdam Foto: Dagmar Morath

von Annika Glunz

Beim de la Motte Überqueren des Alten Marktes in Potsdam fühlt man sich zurückversetzt in barocke Zeiten: Von der Nikolaikirche über den Landtag bis zum Museum Barberini zeugen nahezu alle den Marktplatz umgebenden Gebäude stilistisch von dieser Epoche – wären da nicht ein paar Gebäude, die auffällig aus der Reihe fallen und darauf hinweisen, dass die Stadt eine weitaus vielfältigere Geschichte hat als nur eine barocke. Die wiederaufgebauten neobarocken Gebäude wirken mit ihren glatten, herausgeputzten Fassaden neuer als die lange nach ihnen entstandenen Nachkriegsbauten – das sorgt für Verwirrung, das macht es gleichzeitig auch interessant.

Direkt am Alten Markt markiert das zu DDR-Zeiten errichtete und mittlerweile von den Spuren der Zeit gezeichnete ehemalige Hochschulgebäude einen stilistischen Bruch, und nur einige hundert Meter weiter befindet sich das Rechenzentrum. In dem Bau, ebenfalls aus Nachkriegszeiten und seit den 1960er Jahren als Bürokomplex genutzt, befinden sich nun auf fünf Etagen, in 225 Räumen auf insgesamt 5.000 Quadratmetern Räume für kreative Arbeit. Architekten, bildende KünstlerInnen, Clowns, SchauspielerInnen, AutorInnen und Musikproduzenten arbeiten hier gemeinsam unter einem Dach. Viel Raum für Kreativität und Inspiration, Synergien und auch Wirtschaftskraft also – bedauerlicherweise nur ein begrenzter: In direkter Nachbarschaft befand sich einst die Garnisonkirche – und im Zuge der Wiedererrichtung des alten Potsdam soll auch sie neu aufgebaut werden. Die Stiftung Garnisonkirche, 2008 gegründet und von prominenter Seite finanziell unterstützt, hat sich zum Ziel gesetzt, sowohl den Turm als auch das Kirchenschiff in seiner alten Form neu aufzubauen. Das Kirchenschiff allerdings liegt auf dem Gelände des Rechenzentrums – Letzteres müsste also weichen. Der Bau des Turms ist bereits finanziert, für die Finanzierung des Kirchenschiffs gibt es bis dato kein Konzept.

Ein Argument mehr für den Verein FÜR e. V. (Freundliche Übernahme Rechenzentrum), der sich zum Ziel gesetzt hat, das Gebäude zu erhalten: „Dadurch, dass so viele verschiedene KünstlerInnen zusammen unter einem Dach arbeiten, herrscht hier eine unheimliche kreative Wucht“, so Christian de la Motte, Vorstandsvorsitzender des Vereins und Zauberer.

Diese Wucht bekommen auch BesucherInnen des Rechenzentrums zu spüren: Regelmäßig finden hier Konzerte, Jamsessions, verschiedene Workshops und Rundgänge statt, und auch an ein Café wird gedacht. Das Rechenzentrum deckt seine Betriebskosten über die Mieten der KünstlerInnen, finanziert sich also komplett selbst.

Jasmin Herz und Christian Schalauka, die gemeinsam ein Kreativstudio im Rechenzen­trum betreiben, möchten diesen Standort wegen seiner Synergieeffekte nicht missen: „Vor einiger Zeit haben wir hier einen Workshop mit SchülerInnen organisiert. Die Jugendlichen waren im ganzen Haus unterwegs und haben mit verschiedenen KünstlerInnen über ihre Arbeit gesprochen und da­rüber, was ‚Kunst‘ überhaupt bedeutet. Am Ende haben sie selbst eine Ausstellung kuratiert“, berichtet Herz, „es war eine tolle Erfahrung, zu sehen, mit welchem Elan alle dabei waren und welche Assoziationsketten dabei entstanden sind – und das, obwohl der Workshop mitten in den Schulferien war.“

Fernab von Museen und großen Galerien scheint es schwer geworden zu sein in Berlin – und auch in der Umgegend –, nichtkommerzielle Kulturarbeit zu leisten: Räume sind kaum mehr zu bezahlen. Bei genauerem Hinsehen jedoch entdeckt man sie: eine Vielzahl kleiner künstlerischer Kollektive und Initiativen. Sie experimentieren mit ungewöhnlichen Formen der Rezep­tion, nutzen fernab gen­trifizierter Gebiete ehemalige Lager­hallen, Keller oder verlassene Bürogebäude für ihre Arbeit und befinden sich meist im Kampf um den Erhalt dieser Räume. Dabei benötigt Kunst diese Freiräume, um frei von Verwertungszwängen sie selbst sein zu können: um Bestands­aufnahmen zu ­machen, Widersprüche aufzu­zeigen, zu vermitteln, zu provozieren, um Perspektiven und Utopien zu entwickeln.

Viel Raum für kreativen Austausch und Ideen sowie Selbstverwaltungsstrukturen stehen hier also dem Nachbau einer Kirche gegenüber, die eine dunkelbraune Vergangenheit vorzuweisen hat: Am 21. März 1933 wurde dort die Eröffnung des neuen Reichstags gefeiert, mit Hitler voran. Während der Zeit des Nationalsozialismus bekamen die Soldaten, die für Hitler in den Krieg ziehen sollten, hier ihren letzten Segen. Zwar soll im Kirchenschiff ein „Versöhnungszentrum“ entstehen, de la Motte vom FÜR hat jedoch seine Zweifel: „Solange noch kein konkretes Konzept vorliegt, habe ich die Befürchtung, dass die Kirche zum Wallfahrtsort für Nazis wird.“

Die unmittelbare Nähe zur Kirche bleibt natürlich nicht ohne Einfluss auf die Arbeit der KünstlerInnen: Gerade in Anbetracht des aktuellen Streits ist die Frage, was Kirche gegenwärtig eigentlich bedeutet, allgegenwärtig.

Einer, der sich mit dem Thema Kirche in seiner Arbeit ganz direkt auseinandersetzt, ist Bildhauer Stefan Pietryga. Er führte selbst Projekte durch, in denen er Kirchen mit seinen Arbeiten umgestaltete – mit dem Ziel, diese Kirchen in die Zukunft zu führen. So fertigte er beispielsweise in zweijähriger Arbeit in einer Kirche eine 40 Quadratmeter große Wandmalerei an. Der Anstoß kam dabei von der Kirche selbst: „Der Bischof der Kirche selbst fragte mich an“, so Pietryga. Der Bildhauer verarbeitete die Motive von Heiligenfiguren und versah sie mit neuer Bedeutung.

Das Rechenzentrum ist nicht der einzige Bau in Potsdam, der vom Abriss bedroht ist: Direkt am Alten Markt befindet sich das Gebäude der Fachhochschule, das bereits geräumt und anschließend besetzt wurde und über dessen Verkauf nun verhandelt wird. Auch das soziokulturelle Zentrum Freiland und der dazugehörige Jugendclub Spartacus nutzen alte DDR-Bauten um: Auf dem Gelände eines ehemaligen Wasserbetriebs haben auf 12.000 Quadratmetern 48 feste Projekte ihr Zuhause, unter anderem eine Suchtpräventionsstelle, diverse Theater-und Sportgruppen sowie Werkstätten. Die hier stattfindenden Konzerte und Lesungen ziehen jährlich Tausende BesucherInnen an.

Das Kirchenschiff läge auf dem ­Gelände des jetzigen Rechenzentrums – Letzteres müsste also weichen

Wem gehört Potsdam?

Beim Streit über Erhaltung oder Abriss der Nachkriegsbauten geht es also um viel mehr als nur um die Gebäude selbst: Zum einen geht es um die Frage, welche Teile der Stadtgeschichte sichtbar erhalten bleiben sollen, in welcher Form also hier Erinnerungskultur praktiziert werden soll. Zum anderen stellt sich die Frage, wem eigentlich die Stadt gehört: Soll sie einigen wenigen Reichen gehören, die ihr Geld in den Wiederaufbau einer neobarocken Fassade investieren, oder gehört sie doch vielmehr der breiten Bevölkerung, die die alten DDR-Bauten durch die Schaffung kreativer Freiräume, Kollektive und Selbstverwaltungsstrukturen wiederbelebt?

Beim Besuch des Rechenzentrums scheint diese Frage klar beantwortet: Das Gesamtkonglomerat aus kreativer Energie, das einem hier begegnet, sowie die Symbiose verschiedener künstlerischer Ausdrucksformen müssen erhalten bleiben. Letztlich ist es immer auch die Kunst, die das gesellschaftliche und politische Geschehen aufnimmt, um mit ihm zu arbeiten und nach Lösungen zu suchen. Geradezu sinnbildlich hierfür wirkt das Mosaik von Fritz Eisel an der Fassade des Gebäudes, Titel: „Der Mensch bezwingt den Kosmos“. Oder um es in den Worten eines Besuchers zu sagen: „Im Rechenzentrum muss man mit allem rechnen.“

Rechenzentrum Potsdam, Dortustraße 46 | www.rz-potsdam.de