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Das Böse in uns, das Böse im anderen

Schuldzuweisungs-Mechanismus Menschen müssen lernen, dass andere nicht nur gut oder böse sind, sondern beides sein können. Das ist schwer. Noch schwerer ist es, einzusehen, dass man auch selbst böse sein kann. Denn das löst Schuldgefühle aus

Der Projektions-Mechanismus Man versucht, erst gar keine Schuldgefühle zu bekommen, in der Folge auch keine Schamgefühle und macht sich dran, die Schuld im anderen oder den anderen zu verorten und dort aufs Schärfste zu bekämpfen

von Diana Pflichthofer

„…, der werfe den ersten Stein.“

Bekanntermaßen war dies die Antwort von Jesus gegenüber den Schriftgelehrten und Pharisäern, der oberen Prominenz also, als diese eine sogenannte Ehebrecherin auf den Tempelplatz zerrten. Eine kluge, aber nicht ungefährliche Antwort, denn er musste sich darauf verlassen, dass die Ankläger zu Schuld- und Schamgefühlen fähig und in der Lage sind, diese auszuhalten. Sonst hätte die Angelegenheit eine sehr dramatische Wendung nehmen können. Jemand hätte schreien können: „Ich bin ohne Sünde, ich habe keine Schuld auf mich geladen!“ und hätte den Stein geworfen, geradezu als Beweis dafür, dass er völlig rein und gut und diese Frau gänzlich unrein und böse ist. So ist es damals aber nicht gekommen.

Den Herren ist etwas an sich, in sich aufgefallen. Sie haben nicht darüber gesprochen, aber sie zogen ab. Ihnen ist deutlich geworden, dass sie die Frau steinigen wollten, um ihre eigenen Impulse und Fantasien loszuwerden, zu bekämpfen und zu bestrafen. Sie empfanden ihr eigenes fleischliches Begehren so sündhaft und untragbar, dass sie es externalisieren, das heißt der Frau zuschreiben mussten. Die gleiche Dynamik greift übrigens auch in den nun zu Tage getretenen unsäglichen Misshandlungen bei den „Domspatzen“. (Eigene sexuelle Impulse der Erwachsenen müssen unterdrückt werden und sind für diese so bedrohlich, dass sie sie den Kindern zuschreiben und dort aus ihnen herausprügeln können.)

Die Schuld bei anderen zu suchen und sie dort auf das Schärfste zu bekämpfen, hat eine lange Tradition und ist auch ein sehr stabiler Gruppenprozess. Bereits der allseits bekannte „Sündenbock“, an dem zu Jom Kippur die Sünden aller durch Handauflegen übertragen werden, weiß ein Lied davon zu singen.

Oder Pharmakos im Athen des 5. Jahrhunderts. Die Stadt hielt ihn sich, zahlte seinen Unterhalt, um ihn im Falle drohenden Ungemachs opfern zu können. Er wurde durch die Stadt geführt, bekam alle Sünden übertragen und wurde anschließend getötet. C’est ça! Man war wieder frei von Schuld. Wir sprechen noch heute vom Pharmakon, Gift und Gegengift in einem!

Das Menschenkind, eine physiologische und psychische Frühgeburt, hat im Laufe seiner psychischen Entwicklung verschiedene schwere Aufgaben zu bewältigen: Es muss zwischen außen und innen zu unterscheiden lernen, das heißt auch zwischen den eigenen Gefühlen und denen der anderen. Die Vorstufe dazu ist die Entdeckung, dass andere auch Gefühle haben. Die zweite große Aufgabe ist es dann, zwischen „gut“ und „böse“ zu unterscheiden. Und die dritte, irgendwann zu verstehen, dass ein und derselbe Mensch sowohl „gute“ als auch „böse“ Anteile haben kann.

Das ist für uns zunächst ziemlich unerträglich. Abhängig wie wir sind, können wir die davon ausgehende Bedrohung nicht aushalten, dass unsere lebensnotwendigen Bezugspersonen „böse“ sein könnten. Wir greifen also zu einem psychischen „Trick“ und machen aus dieser einen zwei Personen, eben eine gute und eine böse. Wir sprechen in einem solchen Fall von Spaltung, einer Spaltung des Objekts. Dies ist kein bewusster Vorgang, das heißt, wir können nicht sagen, dass wir das tun, aber wir verhalten uns so. In diese Spaltungen können auch Erwachsene immer wieder zurückfallen.

Nach und nach lernen wir – meistens – auszuhalten, dass unsere wichtigen Bezugspersonen weder immer gut noch immer böse sind, sondern – hoffentlich – in der Regel gut, aber manchmal eben auch „böse“. Dies einmal verinnerlicht, geht es an uns selbst! Wir tun etwas, das jemand anderem schadet, ihm wehtut, ihn verletzt – und bemerken seine Reaktion! An dieser sollen wir schuld sein? Wenn wir etwas davon spüren können, bekommen wir Schuldgefühle, die von Schuld zu unterscheiden sind. Man kann Schuldgefühle haben, ohne schuld zu sein und umgekehrt.

Schuldgefühle, das Bewusstsein „Ich bin es gewesen, der dem anderen geschadet, ihn verletzt hat, die ‚böse‘ war!“ sind schwer auszuhalten. Aber sie fühlen und ertragen zu können, ist die unabdingbare Voraussetzung, um etwas wiedergutmachen zu wollen oder zu können, und sei es, dass der Versuch der Wiedergutmachung darin besteht, sich zu ändern, zu verhindern, dass Gleiches noch einmal geschieht.

Werden Schuldgefühle bewusst, lösen sie oft ein mindestens ebenso unerträgliches Gefühl aus: Scham! Das Schamgefühl ist ein Indikator dafür, dass man deutlich hinter seiner Vorstellung von sich selbst, seinem Ich-Ideal, zurückgeblieben ist. Man möchte sich verbergen (die Täter im Gericht, die längst wissen, dass sie schuld sind, halten sich daher gerne Aktendeckel vor ihr Gesicht). Aber man kann sich durch Verhüllung, weder in staatstragenden dunklen Anzügen noch in Uniformen oder Vermummung noch hinter dem Fernseher, eben nicht vor sich selbst verbergen.

Diana Pflichthofer

ist seit 21 Jahren Ärztin, seit 13 Jahren Analytikerin und Gruppenanalytikerin, 12 Jahre in Hamburg und jetzt in Soltau niedergelassen, aber auch noch in Hamburg tätig.

Was dann? Man versucht, erst gar keine Schuldgefühle zu bekommen, in der Folge auch keine Schamgefühle und macht sich dran, die Schuld im anderen oder den anderen zu verorten und dort aufs Schärfste zu bekämpfen. Die Schärfe, mit der dann vorgegangen wird, ist häufig ein Ausdruck davon, wie stark man die eigene – aber eben abgewehrte und damit nicht bewusste Schuld – einschätzt.

Wenn wir also unsere psychische Entwicklung, einigermaßen unterstützt, durchlaufen haben, wenn wir Eltern oder andere Bezugspersonen hatten, die weder alles, was wir getan, „entschuldigt“ noch eine Schuld als „Todsünde“ eingestuft, die Wiedergutmachung zugelassen haben, dann können wir zwischen Gut und Böse unterscheiden und ertragen, dass wir auch „böse“ Gefühle oder Impulse haben.

Gefühle ändern den Lauf der Welt nicht, erst das Ausagieren derselben. Wenn ich aber schon die Gefühle, zum Beispiel den Hass, nicht in mir halten kann, nicht erforschen kann, woher er denn rührt, dieser Hass, wenn mir keiner dabei hilft und ich allein gelassen werde, dann werde ich diese Gefühle vielleicht in anderen suchen und sie dort auf das Schärfste bekämpfen. Ich werde, um diese Gefühle sichtbar zu machen, den anderen, unbewusst, versuchen zu manipulieren, damit er sie – endlich – zeige und ich nun mit meinem Hass auf ihn losschlagen kann.

Bei gewalttätigen Auseinandersetzungen entfaltet sich diese Dynamik meist auf allen Seiten.

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