: Vom Glück, in Schwierigkeiten zu geraten
KUNST Wenn aus scheinbar so wenig umso mehr wird: Lina Hermsdorfs Installation „Vantage Point“ im Künstlerhaus Bremen stiftet genau die richtige Art von Irritation beim Betrachter. Der findet sich unversehens in der Rolle eines Teilnehmers wieder
VON RADEK KROLCZYK
Zu den besten Ausstellungen gehören solche, von denen man zunächst überhaupt nicht weiß, wie man sich in ihnen zurecht finden soll, wie davon sprechen oder darüber schreiben. Es kann kein größeres Glück beim Besuch einer Ausstellung geben, als in größtmögliche Schwierigkeiten zu geraten. Ja, der Grad an Problemen ist ausschlaggebend für den Grad der künstlerischer Qualität. Großartig in solchem Sinne ist die Ausstellung von Lina Hermsdorf im Bremer Künstlerhaus: „Vantage Point“, „Blickwinkel“ also, oder „Aussichtspunkt“.
Diese Schwierigkeit, die dem Sich-zurecht-Finden bereitet wird, besteht in ihrem Fall in mehr als bloß ein paar gezeigten Arbeiten: Der Raum, den man betritt und in dem man dann verweilt, bildet bereits eine entscheidende Dimension des Werks. Er schafft eine Situation, die dem Betrachter bloßes Betrachten erschwert, die ihn integriert und in, eben, Probleme stürzt.
Dabei scheinen die Eingriffe, die Hermsdorf in den Ausstellungsraum vorgenommen hat, erst mal minimal. Die wohl schwerwiegendste Intervention der Künstlerin ist, dass sie den langen, schmalen Raum geteilt hat: durch eine physisch massive, optisch aber durchlässige Glasscheibe. Und genau diese Diskrepanz zwischen Hindurchsehen und Nicht-hindurch-Können ist dazu geeignet, eine Krise beim Betrachter auszulösen; nur eine kleine, aber grundsätzliche Krise. Überhaupt wird der Besucher hier eher zum Erlebenden.
Hermsdorf, 1985 in Hamburg geboren, arbeitet häufig mit Mitteln des Theaters und schafft auch in ihren Ausstellungen für sich und andere Künstler, aber natürlich auch für das Publikum, eine Art Environment, eine Kunst also, die sich für ihre Umgebung interessiert. In Bremen nun ist neben der erwähnten Glasscheibe noch eine Serie Röntgenaufnahmen zu sehen. Jenseits wie diesseits hängen außerdem kleine Boxen von der Decke, und auf der einen Seite liegt am Boden schwer und schwarz ein Subwoofer. Im weißen Ausstellungsraum befindet sich also erst mal nur wenig – umso erstaunlicher die Kraft, die davon ausgeht.
Exkurs: Die Sinne des Menschen sind hierarchisch organisiert, das Sehen steht an oberster Stelle. Möglicherweise handelt es sich um eine kulturelle Variable, möglicherweise war es mal ganz anders, in der Welt westlicher Erwachsener seit der Aufklärung jedenfalls ist das so. Der Blick objektiviert das Gesehene, er erhebt den Sehenden zum Subjekt, lässt ihn ordnen und herrschen. Über den Blick in den Spiegel erkennt er sich selbst, prüft sich, wird einheitlich und vollständig.
Die Scheibe ermöglicht etwas, indem sie zugleich etwas anderes verunmöglicht. Ein voyeuristisches Moment ist darin ebenso enthalten wie etwas Prophetisches. Variationen dieses Mechanismus finden sich in der Glaskabine der Peepshow sowie in der Glaskugel der Jahrmarktseherin. In Science-Fiction-Filmen wird Glas gern eingesetzt zur gleichzeitigen Verbindung mit und Trennung von: Glas steht zwischen den Protagonisten und der Ewigkeit, Zukunft oder auch bloß dem All. Ewigkeit und Zukunft werden den Handelnden also vorgeführt und vorenthalten im selben Augenblick.
Einiges, was man als Identisches erwartet, wird in Hermsdorfs Bremer Installation zerlegt. Das fängt schon an bei der Person der Künstlerin selbst: Was die heute in London und Frankfurt lebende Hermsdorf da installiert hat, sind zu großen Teilen die Arbeiten anderer Künstler. Die bereits erwähnten Röntgenaufnahmen etwa hatte der britische Performancekünstler John Latham 1970 anfertigen lassen, nachdem er selbst sich bei einem Verkehrsunfall Rippenbrüche, Muskelrisse und Lungenpunktierungen zugezogen hatte: Abgebildet ist sein eigener Genesungsprozess.
Seinen Krankenhausaufenthalt erklärte Latham (1921–2006) kurzerhand zur künstlerischen Arbeit. Da war er schon bekannt für seine Strategie, Künstler in neue Arbeitskontexte einzubinden. Sein eigener neuer Kontext wäre also das Krankenbett gewesen, seine künstlerische Arbeit war, gesund zu werden. Den Fotografien, die dies dokumentieren, gab er folgerichtig den Titel „Clare Hospital Placement“. In Hermsdorfs Installation zieht sich die achtteilige Fotoserie nun vom Diesseits ins Jenseits hinter der Scheibe.
Bei Casper-Malte Augusta Jørgensen beginnt das Dissoziative schon mit dem Namen. Jørgensen, 1991 in Kopenhagen geboren, hat das Hörstück entwickelt, das Hermsdorf nun einsetzt: Eine Männer- und eine Frauenstimme erzählen synchron von einer Person, die denselben Namen trägt wie der Künstler, Casper. Die Männerstimme dröhnt dumpf und kaum verständlich von der abgetrennten Seite des Raumes, wiederum: wie aus dem Jenseits. Im Hintergrund singen Vögel. Man erfährt Caspers Körpermaße und seine Herkunft. Er – oder sie – wird als schmalhüftig bezeichnet, habe flexible Füße. Eine Selbstbeschreibung, sehr konkret und doch noch allgemein genug, um geschlechtsneutral zu sein.
Dass er – oder sie – aus Kopenhagen komme, verweist direkt auf die Person des Künstlers. Dann behaupten die Stimmen jedoch all dieser Ambiguität zum Trotz, die Person, von der sie sprächen, sei vollkommen konsistent. Und wenn sich dann auf einmal auch noch Sades Soul-Disco-Hit „Is it a Crime“ langsam über die Stimmen legt, sie sanft unter sich begräbt, ist man als Betrachter vollkommen verwirrt. Und verlässt die Galerie des Künstlerhauses mit dem Gefühl, in der Erfahrung der Ausstellung selbst zerlegt worden zu sein.
Der Autor ist Betreiber der Galerie K’ in Bremen.
Lina Hermsdorf, „Vantage Point“: bis 13. 8., Künstlerhaus Bremen. Kuratorinnenführung mit Fanny Gonella: 13. 8., 14 Uhr
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