: Schlüsselfigur beim Demokratie-Aufbau
Der russische Publizist Jegor Jakowlew, einstiger Weggefährte von Michael Gorbatschow, ist gestorben
MOSKAU taz ■ Glasnost und Perestroika – Öffentlichkeit und Umbau – waren die Zauberformeln, mit denen KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow in den 80er-Jahren das Ende des Kommunismus einläutete. Ihm zur Seite stand Jegor Jakowlew, Journalist, Intellektueller und publizistisches Gewissen der Umbruchzeit. Am Sonntag starb Jakowlew in Moskau im Alter von 75 Jahren.
Wie Mentor Gorbatschow glaubte auch Jakowlew zunächst noch an die Reformierbarkeit des Systems. Doch war er es, der als Chefredakteur der Moskowskije Nowosti für den beschleunigten Untergang des totalitären Systems selbst sorgte. Nachdem Jakowlew 1986 die Chefredaktion des Wochenblattes übernahm, wurde aus der ehemals muffigen Propagandapostille das Flaggschiff der Reformen, dessen englische Ausgabe im Ausland gelesen und von westlichen Sendern aufmerksam rezipiert und ausführlich zitiert wurde.
Tabubrüche waren das Markenzeichen der MN. Erstmals gelangte das mythologisierte Leninbild ins Wanken, Stalin stand am Pranger und korrupte Parteibonzen wurden in die Öffentlichkeit gezerrt. Berichte aus der Planwirtschaft erinnerten an absurdes Theater. Die 250.000 Exemplare waren mittwochs im Nu vergriffen, stundenlang harrten Leser in der Schlange aus, um eine frische Ausgabe zu ergattern. In der Provinz kursierte das Blatt in Kopien und Digests. Die MN sprachen aus, was Bürger sonst nur im Schutz der Küche bei laufendem Radio besprachen.
Michail Gorbatschow machte Jakowlew gleichzeitig zum Vizechef der staatlichen Nachrichtenagentur APN, die mit Glasnost und Perestroika eine erfolgreiche Charmeoffensive im misstrauischen Westen eröffnete. 1989 zog Jakowlew, der die journalistische Laufbahn bei der Iswestija begonnen hatte, als Abgeordneter in den Volksdeputiertenkongress ein, die erste halbwegs demokratisch gewahlte Volksvertretung in der UdSSR. Nach dem Putsch im August 1991 übernahm der inzwischen 60-Jährige die Leitung des gesamtsowjetischen Staatsfernsehens und setzte in einer der ersten Amtshandlungen die Geheimdienstkader des KGB auf die Straße. Präsident Boris Jelzin entließ den Intendanten 1992. Der Sender hatte unzensiert über einen blutigen Konflikt zwischen Osseten und Inguschen im Kaukasus berichtet.
Ausgerechnet Jakowlew wurde Opfer des einzigen Eingriffes in die Medienfreiheit unter Russlands erstem Präsidenten. Als Chefredakteur der MN hatte Jakowlew den von der KPdSU und Gorbatschow geschassten Volkstribun Jelzin unterdessen vorbehaltlos unterstützt. Zum endgültigen Bruch mit der Kommunistischen Partei führte die Niederschlagung des Aufstandes der litauischen Unabhängigkeitsbewegung in Vilnius durch russische Spezialeinheiten im Januar 1991. Damals titelten die MN: „Verbrechen eines Regimes, das nicht abtreten will“.
Nach dem Zwischenspiel beim Staatsfernsehen widmete sich der studierte Historiker dem Projekt der Obschtschaja gaseta. Die Zeitung war als ein Infoblatt während des August-Putsches entstanden. Unter Jakowlews Leitung entwickelte sie sich zu einem nachdenklichen und kritischen Blatt mit umfangreichen Beiträgen, die vornehmlich die Intelligenz ansprachen. Die Obschtschaja verzichtete ganz auf Werbung und wurde erst 2002 verkauft und kurz darauf eingestellt. Michail Gorbatschow würdigte am Wochenende den einstigen Weggefährten. Er habe eine „Schlüsselrolle im Aufbau des Journalismus, der Demokratie und des Fernsehens gespielt“, sagte er.
KLAUS-HELGE DONATH