: Das innerliche Nein
AufarbeitungDie Performance „Music for the Future“ rückt die Zwangsarbeit auf dem Flughafen Tempelhof ins Bewusstsein
„Ich habe mich heute Abend schick gemacht. Aber nicht für Sie, meine Damen und Herren, sondern für die 20 Millionen Zwangsarbeiter, denen ich heute mein privilegiertes Leben zu verdanken habe.“ Schon bei der Begrüßung steigt Schauspielerin Elisa Müller direkt ins Thema ein, das Ausgangspunkt ist für die anschließende Performance des „Instituts für Widerstand im Postfordismus“ mit dem Titel „Music for the Future“.
Die Performance ist zu Beginn von sehr viel Stille gekennzeichnet: Zwischen Bäumen, die auf dem Kopf hängen, wabert Nebel über die Bühne; lediglich das Getöse eines Gebläses klingt in den Ohren. In Erwartung einer zuvor angekündigten Band herrscht gespanntes Schweigen, bis plötzlich mitten aus dem Publikum eine Frau auf die Bühne stürmt. Hastig und verzweifelt rennt Ren Saibara dort hin und her und wiederholt immer lauter werdend gebetsmühlenartig die Wörter „Vergessen – Vergessen – Vergessen!“
Während der Zeit des NS-Regimes war Zwangsarbeit ein Massenphänomen und in Deutschland allgegenwärtig: Nur durch die Verschleppung und Ausbeutung von Millionen von Menschen konnten Rüstungsindustrie und Landwirtschaft aufrechterhalten werden. Allein in Berlin gab es etwa 3.000 Sammelunterkünfte für ZwangsarbeiterInnen. Eines der größten war das Weserflug-Lager auf dem Flughafen Tempelhof, wo Tausende Menschen zwischen 1940 und 1945 Zwangsarbeit leisten mussten. Die Alte Zollgarage auf dem Gelände ist aktuell Austragungsort der Performance. Diese beschäftigt sich nicht nur mit dem physischen und psychischen Leid, welches der „totale Arbeitseinsatz“ bedeutete, sondern vor allem auch mit dem stetigen innerlichen „Nein“ der ZwangsarbeiterInnen und mit der Frage, inwieweit sie ihrem Widerstand mithilfe der Musik Ausdruck verleihen konnten: „In der Musik überleben Dinge, die unmittelbar von sich aus nicht mehr zu sprechen vermögen“, hatte Marcus Reinhardt zu Beginn der Performance bemerkt. Und: „Musik ist in der Lage, die gegenwärtige Realität aufzusprengen und eine neue zu schaffen.“ Im Bewusstsein der Gefahr ihrer Instrumentalisierung sei sie Utopie: „Musik ist autonom. Sie ist in der Lage, Räume zu besetzen, und ist damit eine ungeheure soziale Kraft.“
Menschen, Tiere, Pullover
Nun also Zeit für die Band? Nein, immer noch nicht. Stattdessen wieder eine längere Phase still umherwabernder Nebelschwaden. Dann gehen alle Lichter im Raum aus – ein Stromausfall? Zwei Menschen aus dem Publikum verlassen den Raum – Zufall? Die Zuschauenden blicken sich fragend um. Nach einer Weile betritt Elisa Müller erneut die Bühne: „Tja, verehrtes Publikum, so etwas kommt nun einmal vor. Da ich nicht sagen kann, wann die Band so weit ist, erzähle ich Ihnen jetzt eine Geschichte.“
Nach über sieben Jahrzehnten seit dem Ende des NS-Regimes können wir das Leid, welches die Verbrechen dieser Zeit verursacht haben, emotional nachvollziehen. Dabei hinken wir den Fakten aber immer hinterher – denken sie andererseits aber auch vor: Auch wir selbst wählen nämlich aus, welche Fakten aus der Vergangenheit wir offenlegen, interpretieren und wieder neu zusammenfügen wollen, um somit auch eine Zukunft zu inszenieren. Ein solcher Prozess kommt nie ohne Fiktionalisierung aus. Das ist es wohl auch, was Müller dem Publikum mit ihrer Geschichte ins Bewusstsein rufen möchte, und: „Wir müssen endlich aktiv werden, wir müssen etwas mit unserem Wissen machen!“ Nach diesem beinahe schreiend vorgebrachten Appell betreten alle SchauspielerInnen die Bühne und verbeugen sich – also doch keine Band mehr?
Doch, die Band kommt. Von Bass, Omnichord und Orgel begleitet, singen Sorry Gilberto leicht und melodiös über Menschen, Tiere, Pullover und das Wetter und enden mit „Why afraid“: „We got drums and trumpets, love and hate. We can walk this street and we don’t care if we miss a beat. Cause sometimes every heart is stummling and every break must lead to something.“
Am Ende des Abends ist man sich sicher: Nein, Angst brauchen wir keine zu haben, wenn wir uns reflektiert aufmachen in die Zukunft. Annika Glunz
„Music for the future“: Alte Zollgarage, Flughafen Tempelhof, Columbiadamm 10, 17./18./19. Juli., 20 Uhr, Eintritt gegen Spende
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen