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Archiv-Artikel

„Diese Familien leben nach Stammesgesetzen“

Vier Familien, in denen seit November Ehrenmorde geschahen, haben kurdische Wurzeln, sagt der Abgeordnete Giyasettin Sayan (Linke.PDS). Ihre Mitglieder befolgten, auch Jahrzehnte nachdem sie nach Berlin gezogen sind, noch einen feudalen Kodex. Blutsverwandtschaft spiele eine zentrale Rolle

INTERVIEW ALKE WIERTH

taz: Herr Sayan, der jüngste Bruder der getöteten Hatun Sürücü, Ayhan, hat am ersten Prozesstag ein Geständnis abgelegt. Er hat ausgesagt, er habe den Mord allein, ohne Unterstützung seiner Familie oder seiner Brüder, begangen. Glauben Sie das?

Giyasettin Sayan: Ich glaube nicht, dass der junge Mann das aus rein eigenem Antrieb gemacht hat. Die Verantwortung für ein solches Verbrechen ist groß. Natürlich wurde er einerseits von der Familie, von der Tradition, von der Kultur und auch von bestimmten Interpretationen des Islam motiviert. Aber es muss auch organisatorische und direkte Beeinflussung gegeben haben. Ich glaube, dass die Familie oder irgendwelche Leute eine Rolle gespielt haben. Ich will natürlich nicht konkret sagen, wer oder wie – das ist auch nicht meine Aufgabe. Das muss vor Gericht bewiesen werden – und das wird schwierig.

Was meinen Sie genau?

Man kann da nur Vermutungen äußern: Eine Zeitung hat berichtet, dass Arzu [eine Schwester der Getöteten, die als Nebenklägerin auftritt, d. Red.] ihre Brüder belastet und ihnen vorgeworfen hätte, den Mord gemeinsam geplant zu haben. Arzu hat das mittlerweile abgestritten und den Bericht als erfunden bezeichnet. Ich denke, dass sie auch vor Gericht bestätigen wird, was Ayhan gesagt hat, und dass sie dort die anderen Brüder nicht so belasten wird. Ich denke auch, sie wird dort den jüngeren Bruder beschuldigen und bestätigen, dass er ein wilder, unberechenbarer Junge war, der alles tun kann – sie wird ihn belasten. Arzu wird nicht beweisen können – wahrscheinlich auch nicht behaupten können –, dass die anderen mit beteiligt waren.

Ist das eine Strategie, den Jüngsten sozusagen zum Alleintäter zu machen?

Kann sein. Also ich will mich nicht festlegen.

Wenn es wirklich die Strategie ist, zu sagen, der Jüngste soll die Schuld auf sich nehmen, weil er am wenigsten Strafe zu erwarten hat, denn das ist ja der Hintergedanke – warum ist dieser Mord dann jetzt geschehen? Alles, was die getötete Frau in den Augen ihrer Familie schuldig gemacht hat, ist bereits vor Jahren passiert. Es wäre doch dann klüger gewesen, diesen Mord zu begehen, als Ayhan noch jünger war?

Die Bereitschaft zu solchen Verbrechen kann nicht per Knopfdruck entstehen. Dafür müssen viele Sachen reifen, auch der Junge, der so etwas begangen hat. Er muss die Notwendigkeit der Tat auch akzeptieren; er muss bereit sein zu sagen: „Ich mach das jetzt.“ Und bis dahin vergeht sehr viel Zeit. Er muss ja motiviert werden.

Seiner Freundin Melek soll er erzählt haben, dass er an jenem Tag, nachdem er seine Schwester getötet habe, am besten, am schönsten geschlafen hat. Dass er beruhigt war, entspannt war und schlafen konnte, bedeutet, er war von dieser feudalen Kultur so beeinflusst, dass er sich absolut in einer Gefangenschaft fühlte. Diese psychische Lage hat dazu geführt, dass er das Verbrechen begangen hat.

Welche Kultur meinen Sie mit feudaler Kultur?

Alle Familien, in denen die vier Ehrenmorde in Berlin stattgefunden haben (siehe Kasten), waren Kurden. Sie stammten aus kurdischen Gebieten, aus Gebieten, wo noch feudale Verhältnisse, also Stammesstrukturen, herrschen, wo die Familie eine große Rolle spielt, Blutsverwandtschaft sehr wichtig ist und die Menschen sich gegenseitig kontrollieren.

Dort gehört es sich, den weiblichen Anteil der Familie zu schützen, denn das ist ein schwacher Teil der Familie oder des Stammes. Das ist ein Teil der Ehre. Dort heißt es, die Frau ist eine Ehre des Mannes, des Stammes, der Familie. Wenn jemand diese Ehre verletzt, ist das eine Kränkung der Familie und des Stammes, eine kollektive Entehrung, und dann muss etwas geschehen. Das kann heißen, die Tötung der Frau und auch des Mannes, der das getan hat. Das ist ein ungeschriebenes Stammesgesetz in dieser Kultur.

Diese Stammesgesetze gelten auch in Berlin?

Das ist das Schlimme, dass Familien, die sich seit Jahrzehnten hier befinden, noch immer unter der Kulturhoheit des Stammes, des asiret, stehen, und auch unter dessen Bildungs- oder Erziehungshoheit – dass also nicht Berliner oder deutsche Institutionen, Erziehungsinstitutionen, Schule etc., die Hoheit über die Kinder haben, sondern der Stamm und die Familie. Das ist ein Phänomen, über das man wirklich sehr viel mehr forschen und berichten müsste. Ich denke, es ist so stark, dass es Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte dauern wird, bis diese Kulturgüter, die ich als feudal, reaktionär und konservativ betrachte, aus den hier lebenden Menschen verschwinden.

Inwiefern hat der Mord an Hatun Sürücü mit dem kurdischen Stammessystem zu tun?

Es gibt – jedenfalls in den ländlichen kurdischen Gebieten – keinen Kurden, der nicht zu irgendeinem Stamm gehört. Vor allem in Ostanatolien, also im kurdischen Gebiet. Die Stämme haben dort bestimmte Funktionen des Staates übernommen, karitative, soziale, kulturelle, auch die Ordnungsrolle des Staates. Der Staat existiert dort für sie nur in negativem Sinne, als korrupter und repressiver. Und was an seine Stelle tritt, ist dieses Verwandtschaftsnetz. Darin gibt es Leute, die schützen können, die für Gerechtigkeit sorgen, die Rache schlichten, die Heiratsgeschichten organisieren können. Diese Stammesstrukturen ersetzen den Staat. Wenn ein Teil von diesem Stamm in die Bundesrepublik kommt, bleiben die Familien sehr eng mit dem anderen Teil des Stammes im Herkunftsland verbunden, und die Ehre ist dort verankert.

Das heißt, wenn die Sürücüs den Mord nicht begangen hätten, hätten sie nicht nur über ihre eigene Familie, sondern auch über andere Mitglieder ihres Stammes Schande gebracht?

Ja, sie hätten ihr Gesicht verloren. Und wenn sie dahin gefahren wären, woher sie kommen, dann wären sie dort nicht mehr gut angesehen gewesen.

Es gibt aber doch auch den Vorwurf, dass die deutsche Gesellschaft große Schuld daran trägt, dass diese Traditionen sich nicht geändert haben.

Wenn Kinder, also zehn- oder fünfzehnjährige Jungen, so ein Verbrechen bejubeln, dann haben wir natürlich versagt. Dann haben wir uns nicht genug um diese Leute gekümmert. Wir haben nicht genügend geforscht über die sozialen Strukturen dieser Familien, der Gruppen, die hier leben, die hier bleiben werden, die ein Teil unserer Gesellschaft sind, und die immer mit solchen Problemen konfrontiert sein werden. Auch die Einrichtungen, die Schulen, die solche jungen Leute nicht aufgefangen haben, mit ihnen keine tiefgehenden Gespräche geführt haben, keine Psychologen eingeschaltet haben, also alle Institutionen dieses Landes, die sich mit diesen Familien befasst haben, waren nicht erfolgreich. Sie haben es nicht geschafft, solche Familien zu integrieren.

Es scheint aber auch zur Tradition dieser Familien zu gehören, dem Staat eher ablehnend gegenüberzustehen?

Ja, das ist richtig. Aber der Staat muss trotzdem versuchen, die Konflikte zu lösen. Ich habe an einer Sitzung teilgenommen, die vom Türkischen Bund (TBB) organisiert war. Dort waren alle betroffenen Institutionen anwesend, also aus dem Bereichen Bildung, Integration, Soziales und Moscheen. Ausgerechnet die Vertreter der kurdischen Familien hatte man nicht eingeladen. Auch die Moschee, in der diese Familien verkehren, war nicht eingeladen, genauso wenig die Kurdische Gemeinde.

Man hat aber über diese Themen diskutiert: Die Frauenvereine haben gesagt, wir brauchen mehr Geld. Der TBB hat ein Zehn-Punkte-Programm vorgelegt. Der Staatssekretär für Schule hat gesagt: „Ich verstehe das nicht, wir haben in der Schule alles getan.“ Und ich habe nur den Kopf geschüttelt. Weil ich die Familien kenne. Ich kannte die im November 2004 ermordete Frau persönlich, ich kannte ihren Vater, die Mutter war eine Verwandte von mir, sie kommt aus meinem Dorf, gehört zu meinem Stamm. Aber in diesem Kreis hatte keiner eine Ahnung, um welche Familien, um welche Menschen es hier geht. Das ist das Problem.

Wie groß ist denn Ihr Einfluss als kurdischstämmiger Politiker hier in Berlin auf diese Familien und auf ihr Ehrsystem? Können Sie sagen: „Tut so etwas nicht!“?

Ich habe Einflussmöglichkeiten, wenn ich erfahre, dass sich solche Konflikte so verschäft haben. Sobald mir zugetragen wird, dass es ein Problem gibt, interveniere ich sehr schnell. Bis jetzt habe ich auch immer geschafft, dass die Angelegenheit nicht eskaliert. Ich habe immer den Imam der kurdischen Moschee mitgenommen, und gemeinsam haben wir viel verhindert. Ich müsste aber sehr viel mehr Basisarbeit machen: Ich muss die Familien besuchen, zu deren Hochzeiten gehen. Aber meine Kraft, meine Energie und meine Zeit reichen nicht.

Das heißt, Sie vermitteln sozusagen zwischen dem Rechtsempfinden der Einwandererfamilien und dem Rechtssystem der Bundesrepublik?

Ja. Und es gibt noch einige andere Menschen, die in der kurdischen Community Ansehen genießen und sich auf diese Art und Weise einsetzen. Denn da würde sich ja sonst niemand einmischen, bis es zu Mord und Totschlag kommt.

Die Veränderung von solchen Traditionen hat doch auch immer etwas mit Vorbildern zu tun. Wir haben gerade in der kurdischen Community in Berlin so viele progressive, politisch aktive Leute, die als Vorbilder dienen könnten.

Ja, das ist richtig. Aber das sind Einzelfälle. Sie entwickeln politisches Bewusstsein durch die Mitarbeit in Vereinen, die sich primär mit der Unterdrückung der Kurden befassen, das heißt, sie kommen über die kurdische Politisierung zu deutschen politischen Organisationen oder Wohlfahrtsverbänden oder Gewerkschaften. Diese Politisierungsphase führt aber meistens dazu, dass sie von der Familie und der Tradition und dem Stamm abgekoppelt werden. Das betrifft die junge Generation und ist ja auch eine positive Entwicklung.

Die Älteren sind mit der Sozialisation der Stammeskultur aufgewachsen, also mit all diesen Konflikten und Ängsten. Ich selbst musste als junger Mann jahrelang mit solchen Ängsten leben, weil es bei uns Stammeskonflikte gegeben hat. Deswegen kenne ich das und weiß, wie man da versöhnt. Aber wer keine Ahnung von Tradition und Stamm hat, kann auch nicht versöhnen und vermitteln.

Diese Beschreibung der Stammeskonflikte und der Angst legt doch den Schluss nahe, dass man froh sein müsste, sich daraus befreien zu können. Alle leiden darunter, Männer und Frauen. Warum ist dieses Ehrsystem dennoch so beständig?

Weil es eine jahrtausendealte Tradition und Kultur ist.

Aber das ist doch schrecklich, oder?

Es ist schrecklich. Es gibt bestimmte Gegenden, in denen das asiret kaum noch eine Rolle spielt, etwa in Dersim. Die Stadt ist so hoch politisiert, dort spielt Mao Tse-tung eine größere Rolle als das asiret. Die Linken kämpfen gegen das asiret-System, weil sie sagen, damit kommen wir nicht weiter und es sei ein Hindernis für die Befreiungsbestrebungen. Auch die PKK hat, aus Machtkalkül, asiret-Führungen angegriffen. Aber abgeschafft hat sie das System nicht. In ländlichen Gebieten herrscht das asiret.

Was ist eigentlich Ihr Begriff von Ehre?

Also mein Begriff von Ehre – das erzähle ich auch oft in den Familien – ist meine Leistung, wenn ich etwas mache, etwas erreiche. Meine Ehre ist meine Sprache: Wenn ich meine Sprache bewahre, wenn ich mein Land nicht ausbeuten lasse. Aber Ehre ist nicht nur geschlechtsspezifisch, das ist Quatsch. Das sind Strukturen aus dem 14. Jahrhundert. Ich lasse mir von niemandem in mein Leben hineinreden.