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Neukölln, mon amour

FILMSTUDIE 16 Jahre ist der Dokumentarfilm „Berlin-Neukölln“ alt und gibt dochneue Eindrücke aus dem Kiez

von Andreas Hartmann

Die Blumen blühen, die Bäume grünen, der Park ist gepflegt, man frühstückt im Garten, der Himmel ist blau. Geradezu malerisch wirkt der damals noch so verrufene Stadtteil Neukölln im Mai des Jahres 2001, den der Regisseur Bernhard Sallmann in seinem Dokumentarfilm „Berlin-Neukölln“ porträtiert.

Dass man sich nicht auf dem Dorf oder wenigstens in einer besser situierten Gegend Berlin befindet, wird dann aber doch immer wieder deutlich, wenn etwa die Kamera durch eine zerkratzte Scheibe einer U-Bahn auf die Natur blickt oder der penetrante Fluglärm das so idyllische Bild stört – Neukölln war damals noch die Einflugschneise für den Flughafen Tempelhof.

Es geht die Karl-Marx-Straße rauf und runter, alles kommt einem ­bekannt vor

Der Dokumentarfilmer Bernhard Sallmann, ein Österreicher, der 1996 selbst nach Neukölln gezogen war, wollte in seinem Film, der für „das Kleine Fernsehspiel“ im ZDF produziert wurde, dem damals gängigen Bild von Neukölln dezidiert etwas entgegensetzen. Ausgelöst durch einen viel diskutierten Artikel im Spiegel, der unter der Überschrift „Neukölln – Hauptstadt der Kriminalität“ alarmistisch den Eindruck vermittelt hatte, in dem ehemaligen Berliner Arbeiterbezirk gehe es zu wie in einer brasilianischen Favela, war er bei seinem filmischen Spaziergang durch den Stadtteil darauf bedacht, der aufgeblasenen Hysterie ein wenig die Luft rauszulassen. Nicht Beschönigung, keine Verklärung war dabei freilich seine Intention. Sein Ziel war eher Gerechtigkeit für seinen Kiez, in dem, und das zeigte er dann auch in seiner Stadtteilstudie, ein friedliches Zusammenleben unterschiedlicher Menschen im Gegensatz zu den verfestigten Klischees sehr wohl möglich war.

Aus heutiger Sicht, ziemlich genau 16 Jahre später, diesen kleinen Film nach all den Buschkowsky-Jahren, den Rütli-Schule-Skandalen und der darauf folgenden Transformation Neuköllns in einen von den Folgen der Gentrifizierung durchgeschüttelten Hipsterkiez noch einmal zu sehen, ist eine interessante Erfahrung. Es geht die Sonnenallee und die Karl-Marx-Straße rauf und runter, alles kommt einem bekannt vor. So viel scheint ähnlich und gleichzeitig doch ganz anders zu sein als heute. Die Eckkneipe, der türkische Barbier, all das gibt es auch heute noch im Kiez, aber beides wäre sicherlich nicht mehr so charakteristisch für dessen Flair. Würde Sallmann jetzt noch einmal seine Liebeserklärung an Neukölln drehen, würde er mit der Kamera sicherlich Einblicke in Szenekneipen suchen und wenigstens einmal die von Touristen und Ex-Pats bevölkerte Weserstraße durchstreifen.

Die Umbrüche, die Neukölln noch bevorstehen werden, sie sind in dem Film aber bereits spürbar. Bei einem Besuch im riesigen Hotel Estrel, das Mitte der Neunziger an der Sonnenallee gebaut wurde, geht es beispielsweise bereits um Start­up-Firmen, und man ist ganz überrascht, dass diese damals überhaupt schon ein Thema, und das sogar in Neukölln, waren.

Die Szene im Estrel ist aber eigentlich die einzige, bei der man das Gefühl hat, der Dokumentarfilm „Berlin-Neukölln“ ist auch eine Recherchearbeit. Ansonsten begleitet Sallmann einfach nur scheinbar ziellos seine Protagonisten, etwa einen Fotoladen-Betreiber, einen türkischen Geschäftsmann oder die ebenfalls aus Österreich nach Neukölln gezogene Schriftstellerin Kathrin Röggla, die pausenlos auf dem Fahrrad zu sehen ist, und filmt in den 21 Tagen Drehzeit, die er genommen hat, vermeintlich ergebnisoffen vor sich hin. Doch das scheint im lebendigen Neukölln zu reichen, um immer wieder spannende und lebensnahe Situationen einzufangen. Da sitzt beispielsweise der Fotomann vor seinem Laden, ein Mädchen aus der Nachbarschaft kommt vorbei und die beiden umarmen sich innig. Oder der Stadtteilführer erklärt gerade etwas vor der Kamera, da fliegt plötzlich ein Ball aus dem angrenzenden Garten herüber und dann muss eben erst einmal umständlich das Spielgerät wieder über den Zaun befördert werden. All diese Nebensächlichkeiten spielen eine tragende Rolle in „Berlin-Neukölln“, zeigen sie doch ganz unaufgeregt und mit einfachsten Mitteln, das, um was es Sallmann geht: wie Menschen unter sicherlich nicht immer einfachen Bedingungen Begebenheiten des Alltags untereinander aushandeln.

Die Initiative Berlin-Film-Katalogs, die es sich seit nunmehr fünf Jahren zur Aufgabe macht, Berlin-Filme nicht nur zu archivieren und filmwissenschaftlich auszuwerten, sondern vergessene Perlen des Genres regelmäßig im Kino der Brotfabrik zu zeigen, lässt einen diese Impressionen aus einem Neukölln, das es so nicht mehr gibt, neu entdecken. Und das nun sogar im Kino.

„Berlin-Neukölln“: Brotfabrik, 12.–14. 6. ab 18 Uhr, am Montag in Anwesenheit von Bernhard Sallmann und Kathrin Röggla

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