: Gemeinschaftim Marsch
PolsKa Marta Górnickas „Hymne an die Liebe“ am Gorki-Theater thematisiert die Stimmung in der polnischen Gesellschaft
von Katja Kollmann
„Polen ist noch nicht gestorben“, mit diesen Worten aus der polnischen Nationalhymne beginnt Marta Górnickas Chorperformance „Hymne an die Liebe“. 26 Frauen und Männer ziehen diese Beschwörungsformel auseinander und bellen dessen Worte einzeln, gruppenweise, nacheinander, nebeneinander in den Zuschauersaal des Maxim Gorki Theaters. Dann füllt „Polska“, dieser schmerz- und mythenaufgeladene Name des Nachbarlands, den Raum und wird ihn die nächste knappe Stunde nicht verlassen.
Marta Górnicka steht mitten im Zuschauerraum auf einem Podest und dirigiert ihren Chor aus Mitgliedern der The Chorus of Women Foundation, SchauspielerInnen des Teatr Polski in Poznan und Laien aus derselben Stadt. „Pravda“ – Wahrheit, ist das zweite mit Bedeutung aufgeladene Wort, das immer wieder fallen wird in diesem hochkonzentrierten, auf eine beängstigende Art und Weise musikalischen Theaterabend.
Es ist eine strenge Wort- und Bewegungschoreografie, in der sich die Konstellationen im Raum ständig verändern. Räumlich und stimmlich. Oft ist es ein polyfoner Chor. Die stimmlichen Träger, die Polen als Gemeinschaft der Auserwählten bezeichnen, vereinzeln danach in der temporären Chorgemeinschaft. „Gemeinschaft“ ist ein weiteres Schlüsselwort, das den Abend prägt. Marta Górnickas Libretto setzt sich nämlich zusammen aus unterschiedlichen Versionen der polnischen Nationalhymne, Märschen sowie patriotischen, religiösen und völkischen Liedern. So bellt Górnickas gemischter Chor meistens und schreit, aber er kann auch flüstern.
Es ist dieser Effekt der Verfremdung durch das Herauslösen der Worte aus dem Kontext oder das stimmliche Auf- und Abrollen von bedeutungsüberladenen Worten, der diesen Losungen einen neuen Resonanzraum eröffnet. Und diese Form des Theaterspielens so eminent politisch macht. „Hymne an die Liebe“ ist eine Bestandsaufnahme der gegenwärtigen vorherrschenden Stimmung in der polnischen Gesellschaft, gebrochen im nationalen traditionellen Liedgut. Seit 2009 arbeitet die polnische Regisseurin mit dem von ihr entwickelten Konzept eines Frauenchors. Ihr ist wichtig, Frauen auf die Bühne zu bringen, die Tragik auf die Bühne zurückzuholen und den Chor als Bestandteil des Theaters aus seiner dienenden Funktion zu erlösen und ins Rampenlicht zu bringen.
So heißt Marta Goŕnickas erste Chor-Regiearbeit 2010 programmatisch „Hier spricht der Chor“. Ihre Inszenierungen „Magnificat“ und „Requiemachine“ wurden unter anderem im Rahmen des europäischen Festivals „Foreign Affairs“ 2014 im Haus der Berliner Festspiele gezeigt. „Magnificat“ beschäftigt sich mit der Macht der katholischen Kirche über den weiblichen Körper. Die Regisseurin montiert dafür Bibeltexte und Kochrezepte zu einem großen Essay über den Madonnenkult in der polnischen katholischen Kirche und seine Auswirkungen auf die weibliche Sexualität.
Górnickas Chorperformances beziehen sich größtenteils auf Phänomene in der polnischen Gesellschaft. Trotzdem werden sie mittlerweile öfter im Ausland als in Polen gezeigt. Besonders in Deutschland und Frankreich wird ihr politisches Theater mit großer Begeisterung aufgenommen. Kooperationen mit verschiedenen deutschen Theatern, wie dem Staatstheater Braunschweig und jetzt dem Maxim Gorki Theater, zeigen das. Ihre Libretti sind inzwischen in mehrere Sprachen, sogar ins Japanische, übersetzt. Górnicka ist auf den europäischen Theaterfestivals ein gern gesehener Gast und so wurde diese Inszenierung schon Anfang dieses Monats auf dem Athens & Epidaurus Festival gezeigt.
Die Regisseurin ist mit ihrer The Chorus of Women Foundation in Warschau beheimatet. Da gibt es das adäquate Publikum für ihre Theaterarbeit. Seltener zeigt sie ihre Arbeit in der polnischen Provinz. Bei einer Vorstellung von „Magnificat“ in Stettin wurde sie als Hexe beschimpft. Das ist aber auch der einzige negative Vorfall. Denn Theater findet in Polen in einer Nische statt. Theater dringt nicht vor in jene Schichten der polnischen Gesellschaft, die sich durch eine ernsthafte Hinterfragung aktueller politischer Phänomene brüskiert fühlen.
In „Hymne an die Liebe“ gibt es immer wieder kurze Augenblicke der Stille. Es wirkt wie die Ratlosigkeit von Menschen, die auf neue Beschörungsformeln warten. Irgendwann ertönt auch ein Lied. Es ist von Mendelssohn-Bartholdy. Und nach dieser beängstigenden Energie, die den Raum fast eine Stunde lang im Bann hielt, breitet sich Ruhe aus. Aber die ist trügerisch.
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