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Liebesbriefe und Shitstorms

Literatur Viele Experimente, wenige Lesungen: Beim Hildesheimer Festival Prosanova gibt es auch Taxifahrten mit AutorInnen

Auf die Platzhirsche der deutschen Lite­ratur hat man mit Absicht noch deutlicher als zuvor verzichtet

Prosanova ist das Literaturfestival, das jedes Mal wieder von vorne anfängt. Neues Team, neuer Schauplatz, neue Atmosphäre, neues Konzept. Neues Team und neues Konzept, weil sich die MacherInnen alle drei Jahre aus dem Studiengang Literarisches Schreiben der Universität Hildesheim neu rekrutieren. Neuer Schauplatz, weil sie jedes Mal Gebäude suchen, die gerade nicht anderweitig genutzt sind. Eine aufgelassene Bundeswehrkaserne, eine leere Hauptschule, diesmal: ein aufgegebener Aldi und drei Hallen Industriearchitektur im sozial eher deklassierten Norden der Stadt.

Das Gelände ist wieder mal toll, die riesige Eisenhalle lässt für Sitzecken und die Bar ebenso wie für Lesungen, Gespräche, das Litradio und ein Streichquartettpodium Platz. Im schön stickigen Kegelcenter finden Workshops mit Textarbeit statt, auf Leseinseln auf dem Aldi-Parkplatz lässt man sich von Autorin zu Autor treiben. Wer will, kann jederzeit Diskursbingo spielen.

Denn das alles gibt es. Und noch viel mehr. Es gibt die großartige Maren Kames, Absolventin des Instituts, die eine Video-Schreib-Performance übers Driften zum eigenen Text hinlegt, die so klug ist und raffiniert, wie sie auf alle auftrumpfenden Gesten verzichtet. Kames übrigens hatte einen schönen kurzen Essay geschrieben als Vorwort fürs Institutsjahrbuch, gegen Angebertexte und ihre Verfasser.

Aber dergleichen kann es für den scheidenden Studiengangsleiter Hans-Josef Ortheil in Hildesheim natürlich nicht geben, so hat er das Vorwort aus dem Jahrbuch gekickt. Außerdem hat das Institut wegen eines anonymen Studierendentexts gerade eine Sexismusdebatte am Hals – kein Wunder an einem Ort, an dem es kaum weibliche Lehrende gibt. Es wäre sehr zu wünschen, dass sich das und manches mehr unter Ortheils Nachfolger beziehungsweise doch hoffentlich: Nachfolgerin ändern wird.

Vom Rumoren im Hintergrund haben sich die Prosanova-MacherInnen nicht beeindrucken lassen. Sie machen stattdessen Programm. Laden Lann Hornscheidt und Margarete Stokowski zu einer Diskussion über Sprache, die von Rechthaberei wunderbar frei bleibt. Lassen Anke Stelling und ihre „Dramaturgin“ Daniela Plügge über ihre Zusammenarbeit an Stellings Texten erzählen. Setzen die Autorinnen Mithu Sanyal, Shida Bazyar und Laura Vogt zusammen, die von Liebesbriefen und Shitstorms berichten.

Klassische Lesungen gibt es kaum, Prosanova ist offen für Experimente, Taxifahrten mit AutorInnen, offen dafür, die Regie Freitagnacht an die aus Hildesheim hervorgegangene Gruppe moon facilitator für ortsspezifische Performances zu übergeben.

Das Publikum ist sehr jung. Die Stimmung ist relaxt, aber nicht kuschelig, nur freundlich und solidarisch. Auf die Platzhirsche der deutschen Literatur hat man mit Absicht deutlicher als zuvor noch verzichtet, aber alle Stimmen, die ich höre, sind mindestens interessant. Sascha Ehlert hat in der Welt die „große, laute, wütende, böse Literatur“ auf dem Festival vermisst. Grow up. Den starken Mann zu markieren hatte auf diesem Prosanova zum Glück niemand nötig. Ekkehard Knörer

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