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Wenn das Eis bricht

Tanz Die junge kanadische Choreografin Daina Ashbee, die demnächst auf der Biennale in Venedig zu sehen sein wird, geht behutsam mit Bildern um, auch gerade dann, wenn sie von Gewalt erzählt

von Astrid Kaminski

„Ich möchte Verantwortung für die Dunkelheit in der Welt übernehmen“, sagt Daina Ashbee, Mitte zwanzig, eine der derzeit am meisten präsenten kanadischen Nach­wuchs­cho­reo­graf*innen und zu Gast beim Kanada-Schwerpunkt der diesjährigen Tanztage Potsdam. So einen Pathos-Satz zu sagen, ist mutig, vor allem, wenn dabei auch Persönliches mitschwingt.

Sie wirkt noch mädchenhaft, vor einigen ihrer Themen hängen schwere Schlösser. Aber sie redet im persönlichen Gespräch nicht daran vorbei. Es geht ihr um äußere wie innere Dunkelheiten, fassbare und unfassbare: Dazu zählt sie die Schmerzen und Depressionen, die von weiblicher Menstruation ausgelöst werden, und thematisiert sie in ihrem jüngsten Stück „Pour“. Von Erfahrungen (sexueller) Gewalt, in der eigenen Familie genauso wie in der indigenen Métis-­Bevölkerungsgruppe, aus der ihr Vater stammt, handelt ihr Debütstück „Unrelated“, mit dem sie bekannt wurde. Auch der Titel ihrer Arbeit aus dem Vorjahr „When the Ice Melts, Will We Drink the Water?“, ist nicht nur klimakritisch zu lesen, sondern bezieht sich gleichzeitig auf seelisches Eis. Und damit ist die Grundfrage des künstlerischen Umgang mit Extremsituationen menschlicher Brutalität wie Folter oder Vergewaltigung gestellt: Wie halten wir die Macht der Bilder aus, wenn sie erst einmal freigesetzt werden?

Körper ohne Schutz

Es gibt Szenen, vor allem in Büchern und Bühnenstücken, die kaum zu verarbeiten sind und Alltagsverhalten stark beeinflussen können. Während sich Kriegsbilder durch die Vergegenwärtigung einer halbwegs stabilen politischen Situation meist zumindest so weit auf Distanz halten lassen, dass sie nicht bedrohlich auf zwischenmenschliche Situationen wirken, sprengen sich die Bilder von sexueller Gewalt, vor allem von Kindesmissbrauch, in die kleinsten sozialen Zellen.

Daina Ashbee geht in ihrem nach Potsdam eingeladenen Stück „Unrelated“, das im nächsten Monat weiter zur Biennale nach Venedig reist, behutsam mit Bildern um. Die Nacktheit auf der Bühne strahlt Ungeschütztheit aus, sie wirkt wie gehäutet, aber nicht ausgestellt – dazu sind die Tänzer*innen Paige Culley und Areli Moran zu fokussiert. Die Konzentration ist auf innere wie äußere Überlebensenergien gerichtet und lässt den enormen Schmerz erkennen, der entsteht, wenn das Bedürfnis nach Vertrauen und Zärtlichkeit mit brachialen Gewalterfahrungen zusammenfällt.

Während Moran sich wieder und wieder im angedeuteten White Cube gegen die Rückwand wirft, steht Culley fast im Zuschauerraum, die Arme wie zum Schweben angesetzt, taxierend, mit einer Frage, aber auch Entsetzen in den Augen. Weiß die vorne, was hinter ihr los ist? Hat sie sich entschieden, es zu übersehen, sich innerlich ergeben? Oder ist sie ihr anderes Ich, dasjenige, das nicht sein darf?

Von ihrem Vater wurde sie in Bildhauerei und Zeichnen, von ihrer Mutter in Lyrik unterrichtet

Ashbee nimmt mit diesem Stück Bezug auf die laut kanadischer Bundespolizei 1017 „First Nation“-Frauen, die zwischen 1980 und 2012 in Kanada ermordet wurden, 164 gelten zudem als vermisst, 225 Fälle als unaufgeklärt, die Dunkelziffer soll weit höher liegen. Erst der aktuelle Premier Trudeau hat im August 2016 eine Untersuchungskommission einberufen. Die junge Canadian-Heritage-Ministerin Mélanie Joly hat nachgelegt und zur 150-Jahr-Feier der Staatsgründung in diesem Jahr die Förderung indigener Kulturen zum erklärten Anliegen ihres kurzweg, einschließlich Kunstförderung, verdoppelten Fünfjahresbudgets gemacht.

Bemerkbar macht sich das bereits in diesem Jahr auch in der auswärtigen Kulturarbeit. Auf Tanzfestivals sind kanadische Künstler*innen präsenter als in den Vorjahren. Daina Ashbee co-finanziert sich bisher jedoch, trotz zweier wichtiger Choreografiepreise, durch Yogastunden, Hunde- und Katzensitting.

Anfangs hatte sie einen Part des Duos „Unrelated“ selbst getanzt. Als sie die Szene einmal nachts im Traum von oben sah, sei ihr aber klar geworden, dass sie die Choreografie nur steuern könne, wenn sie nicht selbst in die Erlebnisse hineingehe. Dass sie seit frühster Kindheit von ihrem Vater in Bildhauerei und Zeichnen und von ihrer nieder­ländischstämmigen Mutter in Lyrik unterrichtet wurde, könnte eine Erklärung dafür sein, wie millimeterhaft sie die Körper auf der Bühne formt und wie stark sie in reduzierten bildhaften Einheiten arbeitet. Keine Bewegung zu viel, jede Rührung hat eine Richtung, und die Bewegungsreime und -Dichotomien entwickeln sowohl Sog als auch Reibung. Wenn sich am Ende die Seelen der Marter entziehen und in eine ätherische Gelöstheit strudeln, dann ist das ein Bild für die traurigste aller Befreiungen. Dunkelheit bleibt im Raum und im eigenen Innern zurück und die Gewissheit, mit dem tiefen Wunsch, für andere da zu sein, berührt worden zu sein.

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