Wir müssen zurück

Wenn die schlesischen, hinterpommerschen, ostpreußischen Heimatverbände uns scheppernd ihre Identität vortanzen, ist dies Ausdruck ihres Heimwehs nach dem fernen Absoluten. Über das süße Sehnen nach den Orten der verlorenen Zeit

von MICHAEL RUTSCHKY

Als sie das erste Mal zurückgekehrt war, erzählt die Dame mit einem Ausdruck von Verklärung, habe man ihr fürs Übernachten ihr ehemaliges Kinderzimmer überlassen. Als sie am anderen Morgen nach dem Aufwachen aus dem Fenster schaute, sah sie also ein Bild, das sie das letzte Mal vor Jahrzehnten, in ihrer Kindheit, vor Augen gehabt hatte. Sie durfte glauben, sie habe die verlorene Zeit für diesen Augenblick leibhaftig wiedergefunden. Die Szene stammt aus einem Dokumentarfilm, der um Weihnachten herum im TV zu sehen war. Sie spielt in einem einst schlesischen, jetzt polnischen Dorf, das beste Beziehungen zu seinen ehemaligen deutschen Bewohnern pflegt, die in Busladungen aus der BRD eintreffen. Dort hat auch die ältere Dame, die so verklärt vom neuerlichen Anblick ihrer Kindheitslandschaft erzählte, den allergrößten Teil ihres Lebens verbracht.

Ebenso anschaulich erzählte sie von den Demütigungen, von der Armut, die sie und ihre Familie als Vertriebene in Westdeutschland erleiden mussten. Gegenüber dem schönen Haus, das sie verlassen hatten, erwies sich die Wohnung im Westen als Absteige; die neuen Nachbarn sprachen einen fremden Dialekt und machten sich lustig über den der Flüchtlinge. Wilde Gerüchte kursierten über sie. Wie oft habe sich die Familie in diesem Elend und Durcheinander, erzählte die Dame, nach ihrem heimatlichen Dorf in seiner schönen Landschaft, nach dem eigenen Haus gesehnt. Im Grunde jeden Tag.

Ich war dieser Dame, die ihrem Habitus nach im Westen ein durchaus gutbürgerliches Leben aufzubauen verstanden hatte, richtig dankbar. So hatten uns die Vertriebenen ihre Geschichte all die Jahre nicht erzählt. Sie handelt vom Heimweh, das dort drüben in der Zeit des Glücks und der Erfüllung liegt, unerreichbar. Stattdessen belästigten sie uns mit ihrem Tag der Heimat, an dem mit Dschingderassa die ostpreußische/hinterpommersche/schlesische Identität vorgetanzt wurde; mit dem Recht auf H., das angeblich noch ihren Kindern und Kindeskindern zukomme, obwohl die in Visselhövede statt in Elbling, in Gladbeck statt in Schneidemühl, in Waldkraiburg statt in Oppeln geboren waren und ihnen später, wenn sie erwachsen sind, als Ort der verlorenen Zeit das Waldkraiburg, Gladbeck, Visselhövede ihrer Kindheit in Erinnerung kommt statt Schlesien, Pommern, Ostpreußen.

„Unsere Palästinenser“, die über Jahrzehnte eine Politik der Versöhnung und Entspannung gegenüber dem Osten verhinderten, indem sie Gebietsansprüche und Rückkehrrechte anmeldeten, die, wie jeder sehen konnte, illusionär waren – es sei denn, die BRD zöge erneut gegen Osten. Was verständlicherweise nur sehr wenige offen forderten; vor allem hörte man Schimpfen, Drohen, Fordern, Quengeln.

Dabei ging es, wie die Dame aus dem schlesischen Dorf so zwingend verdeutlichte, all die Jahre um Heimweh, diese ziehende Sehnsucht nach der verlorenen Zeit. Dass dort das Glück wohnt, unerreichbar, darüber herrscht eine Gewissheit, die ans Absolute grenzt, und die Dinge liegen so, dass diese Gewissheit keiner Überprüfung unterzogen werden kann. Wären sie in Oppeln, Schneidemühl, Elbling geblieben, ihr Leben hätte sich ebenso glücklich/unglücklich gestaltet wie in Waldkraiburg usw. Viele wären ohnedies nach Breslau, Königsberg, Berlin umgezogen, und ihre Kindheitsorte hätte die Erinnerung auf die normale Weise vergoldet, kein Gedanke an Rückkehrrechte.

Jeder weiß, dass kein Besuch in der alten Heimat in den Goldgrund führt, den das Heimweh vorspiegelt. Das Heimweh bildet eine Art flüssiger Gefühls- und Bedeutungsmasse, die sich an höchst unterschiedliche Gegenstände kleben kann, um ihnen eine besondere Intensität zu verleihen. Lange waren Sie nicht mehr in der kleinen Stadt Ihrer Kindheit. Und jetzt empört es Sie, wie sie die Barockfassaden des Alten Marktes modernisiert, die Berggasse mit Asphalt überzogen und die Kaltenbacher Wiesen mit Datschen zugebaut haben. In Berlin toben Auseinandersetzungen um die Gaslaternen, die wegen Unzuverlässigkeit und hoher Kosten die Obrigkeit umrüsten will, ein unersetzlicher Verlust, klagt und schimpft die Heimwehfraktion. Das ist der Stoff, aus dem Traditionsvereine sind. Sie verwalten diese Empörung und suchen sie in politische Forderungen umzumünzen. Das Stadtschloss muss wieder aufgebaut werden. Wenigstens seine Fassade. Wenigstens drei Seiten davon. Dann wird die Stadt wieder die alte und heil sein. Das Heimweh erhebt eine vergangene Lage zum Idealzustand und fordert dringend die Rückkehr dorthin.

Wollen die einen Königsberg wiederhaben, so die anderen den Wohlfahrtsstaat der Adenauerära, und Dritte träumen von einer Rekatholisierung Europas. Dabei lösen sich die verschiedenen Heimweh-Utopien allmählich von allen persönlichen Erinnerungen ab. Wie das deutsche Königsberg blühte und strahlte, verglichen mit dem russischen Kaliningrad – immer weniger Menschen können das aus eigener Erfahrung erzählen. Der Wohlfahrtsstaat der Adenauerära, das Wirtschaftswunder der Fünfziger fließt oft mit den Kindheits- und Jugenderinnerungen zusammen, die, wie gesagt, ihre speziellen Vergoldungsverfahren applizieren, erste Liebe, erste Fernreisen, Rock ’n’ Roll. Gegen das Heimweh nach den Fünfzigern die damals immer noch zertrümmerten Städte, die Angst vor dem Atomkrieg, die After-Hitler-Depression in Erinnerung zu rufen, kostet richtig Anstrengung.

Was das katholische geeinte und gestärkte Europa angeht, das jüngst von der Kölner Benedetto-Euphorie wieder mal an die Wand gemalt wurde, so ist es wohl immer Propaganda gewesen, Propaganda der Gegenreformation, die seit dem 16. Jahrhundert mit Hollywood-Methoden den kahlen und strengen Protestantismus vertreiben sollte. Noch bis tief in die 1920er-Jahre hinein schwärmte die Intelligentsia von der schön durchgliederten und von der una sancta ecclesia überwölbten Sozialhierarchie des Mittelalters; eine der Grundschriften des Feuilletons, Georg Lukacs’ „Theorie des Romans“ (1914/15), findet man davon durchdrungen, und Lukacs’ Transformation zum stalinistischen Kurienkardinal folgt dieser Linie.

Vermutlich macht es gar nicht so viel Sinn, in diesen Dingen zwischen einem persönlichen und dem kulturell geprägten Heimweh zu unterscheiden, sie gehen fließend ineinander über. In der Alten Nationalgalerie zu Berlin hängt ein Gemälde von Claude Monet, „Sommer“, und immer, wenn ich davor stehe, muss ich mit Tränen kämpfen – überhaupt wird man nach meiner Beobachtung im Alter leichter vom Heimweh angerührt. Der Goldgrund verdichtet sich, vielleicht ist es auch bloß das Langzeitgedächtnis. In der mittelalterlichen Malerei sollte der Goldgrund das Himmelslicht widerspiegeln, das über dem Paradies liegt, und damit sind wir flugs beim stärksten kulturellen Topos des Heimwehs angelangt. Was jene Dame durch das Fenster ihres schlesischen Kindheitsdorfs erblickte, was mir aus Claude Monets Sommerbild entgegenkommt, das ist der Paradiesgarten, in dem wir einst lebten und aus dem wir für immer vertrieben sind. Kulturhistoriker können genau beschreiben, wie dieser biblische Topos des verlorenen Paradieses mit einem heidnischen verschmolz, dem des Goldenen Zeitalters, in dem es vergleichbar paradiesisch zuging, und wie diese beiden Topoi sich im so genannten Millenarismus verbanden, der seit dem Mittelalter alle politischen und sozialen Utopien inspirierte: Einst herrschten Überfluss, Frieden, Ordnung. Dann kam ein tiefer Riss, der uns von ihnen auf immer trennt.

Wir müssen zurück. Noch in den Subtilitäten von Marx’ Analyse der Warenform findet man den religiösen Gedanken: Unter den Bedingungen der Subsistenzwirtschaft besitzen die Dinge nur Gebrauchswert und sind adamitisch rein; geraten sie aber in den Tauschverkehr, unterliegen sie einer ontologischen Entfremdung, die mit Notwendigkeit im Kapitalismus gipfelt und erst mit seinem Untergang aufgehoben sein wird … Hier blühen tausend Bildungsblumen. Auch bei Rousseau, in dessen idealem Naturzustand alle Menschen gleich sind, weil sie die künstlichen Sozialunterschiede noch nicht kennen und keinen Wert darauf legen, sind die Lebensmittel und die Werkzeuge einfach und wahr. In den Siebzigern inspirieren Rousseaus Naturideen die kalifornischen Hippies, heute manche Attacis, schon immer die Bioindustrie. Nicht zu vergessen der Tourismus, der uns immer wieder an die verschiedenartigsten Orte zu transferieren verspricht, wo noch Natur pur herrsche, die Lüneburger Heide oder das schottische Hochland, die Aztekentempel Mittelamerikas oder die Galapagosinseln. Nicht nur, dass die Azteken, dem Heimweh des Touristen zufolge, im Einklang mit der Natur lebten – wie auch immer ihre blutrünstigen Opferrituale dazu passen –, aufgrund ihres prähistorischen Alters scheinen sich die komplizierten Architekturen selber in Natur verwandelt zu haben. Passen sie nicht vorzüglich in den Urwald?

Es gibt weiterhin Leute, die die ägyptischen Hieroglyphen für eine Schrift der Dinge selbst und die Buchstaben für Entfremdung halten, wie überhaupt das weite Feld der Esoterik dem Heimweh hier schöne Feierstunden ermöglicht. Weil es beim Heimweh immer um Vergangenheit geht – das antike Griechenland, der deutsche Wald des Mittelalters, der Berliner Alexanderplatz um 1929 –, kann man sich fragen, wie es mit den anderen Zeitformen zusammenpasst. Das Vergangene ist immer golden. Aber wie steht’s um das Präsens? Die Gegenwart ist stets der Augenblick der Krise und der großen Gefahr. Persönlich mag man gerade den schönen Sommer genießen oder guten Sex oder ein gutes Buch. Wer öffentlich den Mund aufmacht, muss dagegen über die Klimakatastrophe reden oder den Verfall der Sexualmoral sowie der Belletristik. Auch dies ist ein Topos, eine feste Redeform. Jetzt, in genau diesem Augenblick, erleben wir die größte Krise unserer Übergangsgesellschaft, eine Zeiten- und Epochenwende, wie sie sich noch nie ereignet hat – Sie dürfen nach Belieben eintragen, was Inhalt der Krise ist. Wenn man, vom Lebensalter her, schon ein Dutzend solcher größter Krisen durchhat, wird der Topos natürlich komisch und als Imponiergehabe und Selbstermächtigung des Redners erkennbar. Aus jüngerer Zeit empfehle ich Ihrer Beobachtung hier besonders das Schaffen des Dr. Krachmacher, Teilherausgeber einer bekannten Frankfurter Zeitung.

Was sich in der Gegenwart als tief greifende Krise zeigt, entwickelt sich in der Zukunft zur Katastrophe. Es macht staunen, was das apokalyptische Fantasieren alles einarbeiten kann, die pseudodarwinistischen Rassentheorien des Führers ebenso wie den Fernsehkonsum der Kinder. In puncto Heimweh enthält die Apokalypse das größte Versprechen. Nach der Katastrophe, dem Zusammenbruch der falschen Welt, der Entscheidungsschlacht zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie (der wahren Muslime und der satanischen Kreuzfahrer), kehrt das Himmelslicht, das Paradies, das Gottesreich zurück, und wir leben auf dem Goldgrund, den die Dame durch ihr schlesisches Kindheitsfenster noch einmal erblicken durfte, für immerdar.

MICHAEL RUTSCHKY, geboren 1943, ist Publizist und lebt in Berlin